Zurück ins Leben

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Brutale Nervenkrankheit lässt Haller Handwerker (58) durch die Hölle gehen

Sven Heibrock steht mitten im Leben, als sein Körper im November 2022 binnen weniger Stunden seine Dienste versagt. Für Monate fällt er ins Koma - und verliert alles. Über seinen langen Weg zurück.

Der Haller Handwerker Sven Heibrock (58) steht mitten im Leben, als ihn im November 2022 von jetzt auf gleich das Guillain-Barré-Syndrom lähmt. Für Monate fällt er ins Koma, sein altes Leben bekommt er nicht zurück. So geht es ihm heute. | © Nicole Donath

Nicole Donath
29.12.2024 | 31.12.2024, 10:57

Halle. Es dauert einen kleinen Moment, nur ein wenig länger als gewöhnlich, bis das Klingeln an der Haustür mit dem sonoren Brummen des automatischen Türöffners beantwortet wird. Doch dafür hat es Sven Heibrock selbstständig bis zum Eingang seiner Wohnung geschafft, nur gestützt auf einen Arthritis-Rollator, der einen aufrechten Gang ermöglicht. Das kommt schon einem Wunder gleich.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war er nämlich noch vollständig ans Bett gefesselt: Sein Körper durch eine ebenso seltene wie brutale Nervenkrankheit gelähmt, praktisch von jetzt auf gleich. Gepeinigt von schier unerträglichen Schmerzen, künstlich beatmet, ausgestattet mit einem künstlichen Ausgang und noch einem Herzschrittmacher. Obendrein erkrankte Sven Heibrock an einer Lungenentzündung und an Covid-19, während ihn über Monate auch hohes Fieber plagte mit Temperaturen jenseits der 40 Grad. „Ganz ehrlich? Ich wurde einmal durch die Hölle geschickt“, stellt Sven Heibrock nüchtern fest.

„Viermal, das haben die Ärzte mir im Nachhinein gesagt, viermal dachten sie, ich packe es nicht ...“ Der Rekonvaleszent zieht die Schultern hoch. Denn nun steht er da, gerade und mit einem Lächeln im Gesicht. Und geht langsam zurück zu seinem Krankenbett; einen Fuß vor den nächsten, Schritt für Schritt. Sein altes Leben, das er 56 Jahre hatte - lange her.

Als selbstständiger Handwerker viele Aufträge für Gerry Weber erledigt

Dieses alte Leben dauerte exakt bis zum 16. November 2022. Bis zu jenem Tag war Heibrock als Handwerker in Halle selbstständig, sanierte und reparierte Häuser; viele seiner Aufträge drehten sich rund um die OWL-Arena, das Court Hotel oder den Firmensitz von Gerry Weber an der Haller Neulehenstraße. Nebenbei kickte er in seiner Freizeit schon mal oder spielte Tennis, wenngleich auch nur selten. Er besaß ein Haus mit kleinem Pool, ein etwas neueres Auto und einen Oldtimer sowie ein Motorrad. Dann und wann traf er Freunde auf ein Glas Wein, und noch öfter seine Tochter Kim (30) mit deren Mann. Sven Heibrock lässt den Blick in die Runde schweifen, vorbei an dem Arthritis-Rollator, einem Rollstuhl, einem Gehbock und - einem Lautsprecher. „Alexa, Ofen aus.“ Ein Piepen ertönt, und der Backofen mit einer Packung Fisch darin stellt sich automatisch aus. „Alles war ganz normal, alles war so selbstverständlich“, schließt Heibrock. Dann kam der Überfall durch das Guillain-Barré-Syndrom (GBS).

Sven Heibrock in seiner behindertengerechten Wohnung, wie er sich auf seinen Arthritis-Rollator stützt. - © Nicole Donath
Sven Heibrock in seiner behindertengerechten Wohnung, wie er sich auf seinen Arthritis-Rollator stützt. (© Nicole Donath)

Guillain-Barré-Syndrom lähmt Nerven und schwächt Muskeln

Das GBS verursacht schwere Nervenentzündungen, damit einhergehen Muskelschwächen und -lähmungen. Manchmal verschwinden die Symptome recht zügig wieder, bei Sven Heibrock wird das nicht so sein. Doch von all dem ahnt er noch nichts, als er an jenem Abend auf einer Geburtstagsfeier weilt und plötzlich Schmerzen in den Füßen verspürt. Und dann in den Händen. Und sich überhaupt unwohl fühlt, alles ganz unvermittelt. „Ich dachte, da fährst du mal besser nach Hause“, erinnert sich Heibrock. Bereits auf dem Weg zum Auto kann er allerdings schon nur noch auf den Hacken laufen. Und steuert direkt die Notaufnahme des Haller Krankenhauses an.

Einen Schlaganfall können die Mediziner gerade noch ausschließen. Dann bricht Sven Heibrock zusammen, er wird sofort ins Klinikum Bielefeld-Bethel verlegt. „Ich hatte kein Gefühl mehr, nichts“, sagt er. Nachdem in Bethel das Guillain-Barré-Syndrom diagnostiziert wird, geht es für Heibrock weiter auf die Neurologische Station des Johannis-Stifts in Bielefeld-Schildesche. Mit Blutwäschen, Plasma-Behandlung und Morphium-Gaben. „Ohne Morphium hätte ich die unendlichen Schmerzen gar nicht ertragen.“

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Gut zwei Monate liegt Sven Heibrock im Koma; zwischenzeitlich wird er nach Kassel geflogen, damit man ihn dort aufpäppeln möge. Aber das Fieber geht nicht runter, und er wird auf die Intensivstation des Krankenhauses Osnabrück verlegt. Dort erlangt Sven Heibrock schließlich das Bewusstsein wieder - und ist völlig verwirrt. „Du hast so viele Träume, obwohl du im Koma liegst - im Traum bin ich auch geflogen, aber bestimmt nicht von Krankenhaus zu Krankenhaus ...“ Er schüttelt mit dem Kopf und lächelt. „Das hat erst mal gedauert, bis ich in der Realität angekommen war.“ Und die ist dramatisch.

Für den Anfang soll der GBS-Patient üben, dreimal für zwei Minuten pro Tag selbstständig zu atmen. „Da dachte ich schon, ich ersticke ... Und wusste doch, das muss ich irgendwann wieder 24/7 schaffen!“ Sven Heibrock greift hinter sich, nimmt ein Handtuch und trocknet sein Gesicht ab. Alles, was er macht, strengt ihn extrem an. „Manchmal sind das Anzeichen dafür, dass die Nerven wieder etwas heilen. Das läuft in kleinen Schüben, Millimeter für Millimeter.“

Nach seiner schweren Krankheit hat sich das Leben von Sven Heibrock von Grund auf geändert. - © Nicole Donath
Nach seiner schweren Krankheit hat sich das Leben von Sven Heibrock von Grund auf geändert. (© Nicole Donath)

Große Anstrengungen, tägliches Training: Das Zauberwort heißt Geduld

Der 58-Jährige macht keinen Hehl daraus, dass ihn auf dem langen Weg zurück zwischenzeitlich auch mal der Mut verlassen habe. „Aber am Ende hast du ja gar keine andere Wahl, als dich durchzukämpfen. Also habe ich versucht, in Etappen zu denken - aber das war falsch, das haben mir die Ärzte auch gesagt. Du setzt dir nämlich Ziele und willst zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas erreichen. Aber wenn das dann nicht funktioniert, bist du enttäuscht. Jetzt setze ich mir keine Ziele mehr, wann was wieder funktionieren soll. Ich strenge mich einfach weiter an, trainiere, übe - und bin dankbar dafür, wenn ich wieder etwas geschafft habe. Zum Beispiel das Essen mit einer Gabel. Alles nach und nach.“ Das Zauberwort heißt Geduld.

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Der Weg zurück ins Leben ist lang. Sven Heibrock braucht zwischenzeitlich einen rechtlichen Betreuer. Allein schon dafür, dass seine Firma bis Ende März 2023 abgewickelt werden kann: die Kundschaft informieren, Schlussrechnungen schreiben, angenommene Aufträge, offene Baustellen an Subunternehmen weitergeben, mit Banken und Ämtern verhandeln. Diese schweren Aufgaben übernimmt Kim Heibrock zusammen mit ihrer Mutter Britta. Dass die Eltern geschieden sind, spielt dabei keine Rolle, in Zeiten der Not steht die Familie nach wie vor zusammen.

Im Mai desselben Jahres wird als Nächstes der Tubus entfernt, sodass Heibrock wieder selbstständig atmen kann. Im Oktober geht es in die Reha nach Bad Driburg, wo der Patient bis Juni 2024 bleiben muss. Erst dann ist er so weit, dass er in ein eigenes Zuhause wechseln kann. Aber nicht etwa zurück in sein altes Haus und die gewohnte Umgebung, nein, in eine Wohnung mitten in der Haller Innenstadt, behindertengerecht und über einen Aufzug erreichbar. „Ein absoluter Glücksfall“, sagt Sven Heibrock.

Lernen, wieder mit einer Gabel zu essen

Sven Heibrock (58) muss langsam wieder lernen, mit Besteck zu essen. - © Nicole Donath
Sven Heibrock (58) muss langsam wieder lernen, mit Besteck zu essen. (© Nicole Donath)

Als er hier ankommt, ist er noch an sein Bett gefesselt. Der Pflegedienst kommt viermal am Tag, und zu den körperlichen Strapazen kommen die Sorgen um die Zukunft. „Ich hatte zwar gut vorgesorgt - aber das Polster schmilzt doch rasant“, beschreibt Sven Heibrock seine Lage. Und obwohl er alle Kräfte bräuchte, um sich auf seine Genesung zu konzentrieren, geht eben auch viel der Energie dafür drauf, sich mit Behörden auseinanderzusetzen und um Unterstützung zu kämpfen, wie er sagt. „Das ist sehr zäh, wenn du in meiner Lage bist ...., ach, du hast das Gefühl, du bist nichts wert. Mit Entgegenkommen brauchst du nicht zu rechnen.“ Sven Heibrock stellt das ganz nüchtern fest, verbittert ist er dennoch nicht. Die Krankheit hat sein Leben, hat seine Einstellung verändert.

Brutale Nervenkrankheit hat Einstellung zum Leben verändert

„Manchmal stehe oder sitze ich am Fenster und lasse die Sonne auf mein Gesicht scheinen. Das ist total schön.“ Überhaupt freue er sich auf den Moment, da das Krankenbett abgeholt werden und er sich wieder alleine anziehen und ein Stück spazieren gehen könne. Zum Beispiel mit seiner Englischen Bulldogge Skylar. „Tiere können dir viel geben ...“ Hoffnung macht ihm, dass der Pflegedienst mittlerweile nur noch zweimal am Tag zu kommen braucht, bald nur noch noch einmal.

Darüber spekulieren, was die Krankheit ausgelöst haben könnte? Und mehr noch, warum es gerade ihn getroffen hat? „Mach ich nicht mehr“, sagt Sven Heibrock. „Das ist müßig und darum geht es nicht mehr. Ich schätze das Leben jetzt ganz anders, ich brauche nicht viel.“ Wieder tupft er sein Gesicht mit dem Handtuch ab und lächelt. Dann sagt er: „Das heißt, einen Wunsch habe ich doch noch: Ich möchte wieder ans Meer fahren und aufs Wasser gucken. Und sollte ich eines Tages noch mal arbeiten können, vermutlich ja nicht körperlich, dann besuche ich vielleicht andere Menschen in dieser Situation, in der ich war. Und rede ihnen gut zu, mache ihnen Mut. Ich bin mit mir im Reinen, ich kann gut alleine sein. Und ich habe gelernt, worauf es im Leben ankommt.“