Halle. Als Katja Kosubek vor zwei Jahren in den Keller unterhalb des Bürgerbüros hinabstieg und ein bisschen in den Schränken dort stöberte, fand sie etwas, von dessen Existenz wohl kaum noch jemand wusste. Sie entdeckte mehrere Tausend Meldekarteien - alle mit einem roten „Ausländer“-Stempel versehen. „Im Bürgerbüro waren alle total überrascht, und auch im Rathaus hat keiner mehr davon gewusst“, erinnert sich die Leiterin des Museums Haller Zeiträume.
Bei dem Fund handelt es sich um die Meldekartei von Menschen, die vor und während der NS-Zeit Zwangsarbeit in Halle verrichten mussten. „Es sind 3.930 Karten“, sagt Silke Wilming. Gemeinsam mit Rita Lübcke hilft sie Kosubek nun, die vielen Karteikarten zu übersetzen - schließlich sind die alle in Sütterlin geschrieben. Bei einigen stößt das Dreiergespann an ihre Grenzen. Schnell seien allerdings die wiederkehrenden Nationalitäten aufgefallen: „In vielen Fällen kamen die Menschen aus Polen, Russland oder der Ukraine“, sagt Kosubek.
„Bei einigen Karteikarten können wir Fotos zuordnen, es gibt aber wesentlich weniger Bilder als Karten, und nicht auf jeder ist eine Bildnummer“, erklärt Kosubek. „Die Bilder wurden unter Verschluss im Stadtarchiv gelagert.“ Im Nachlass des damaligen Haller Bürgermeisters seien zudem weitere Fotos von Zwangsarbeitern gefunden worden, berichtet die Historikerin.
Zwangsarbeiter wurden in Halle für den Rüstungsbau eingesetzt
Die Arbeitskräfte seien vor allem im Rüstungsbau eingesetzt worden, so Kosubek. In Künsebeck bei der Firma Dürkopp sollten sie demnach Flakgeschütze, also Flugabwehrkanonen bauen. Dürkopp habe sein Werk seinerzeit von Bielefeld nach Künsebeck verlegt, in der Hoffnung, auf diese Weise Bombenangriffen zu entgehen. „Es wurden auch Arbeitskräfte gebraucht, um das neue Werk zu errichten“, fügt Kosubek hinzu. „Über 1.000 Zwangsarbeiter“ seien während dieser Einsätze in einem Waldlager in Künsebeck untergekommen.
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Den drei Frauen im Haller Stadtarchiv ist die große Bedeutung von Kosubeks Fund bewusst. „Es ist total spannend. Hinter jeder dieser Karten steckt ein Schicksal, eine Geschichte“, sagt Lübcke. Viele dieser Lebensgeschichten könnten als Stoff für einen Film herhalten.
Damit der kostbare Fund keinesfalls verloren geht, arbeitet das Haller Stadtarchiv nun mit den Arolsen Archives zusammen. Einer Institution aus Hessen, die sich der Dokumentation von NS-Opfern und deren Schicksalen widmet. Den heutigen Namen trägt das Archiv- und Forschungszentrum erst seit 2019. Hervorgegangen ist es aus dem 1948 gegründeten Internationalen Suchdienst (ITS), der es sich seinerzeit zur Aufgabe gemacht hatte, Kriegsverschollene wiederzufinden.
Forschungszentrum hilft bei Aufarbeitung der Zwangsarbeit in Halle
Mithilfe der Arolsen Archives seien die entdeckten Karteien mittlerweile digitalisiert worden, berichtet Katja Kosubek. Im Rahmen des Projektes „everynamecounts“, das von den Arolsen Archives vorangetrieben wird, sollen die digitalisierten Karteien nun online veröffentlicht und damit der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Über die Website der Arolsen Archives werden dann alle Zugriff auf die Karteien bekommen und sich somit an der Übersetzung beteiligen können. „Links wird die gescannte Kartei zu sehen sein und rechts eine Maske, in die die übersetzen Namen und die anderen Daten eingetragen werden können“, erklärt Silke Wilming. „Das kann ein schönes Alt-Jung-Projekt sein“, findet die ehrenamtliche Helferin. Denn viele Ältere könnten zwar Sütterlin lesen, hätten aber Schwierigkeiten mit Computern.
Bevor die Karteien am Sonntag, den 9. November, veröffentlicht werden, findet am Freitag (7. November) eine entsprechende Infoveranstaltung in der Haller Remise statt. „Timo Nahler von den Arolsen Archives wird zu Gast sein und über die Zwangsarbeit zur NS-Zeit im Allgemeinen erzählen“, kündigt Kosubek an. Sie selbst werde etwas zur damaligen Lage in Halle präsentieren. „Die beiden Vorträge werden jeweils etwa eine halbe Stunde dauern“, schätzt sie. „Um 20 Uhr geht es los.“ Veranstaltungsort ist die Remise.
Selbstverständlich, betont Kosubek, sei die Teilnahme an der Veranstaltung keine Voraussetzung, um sich später an der Übersetzung der Karteien zu beteiligen. Wer als Haller mithelfen wolle, müsse sich aber möglicherweise beeilen, schließlich stehe es Leuten auf der ganzen Welt frei, mitzumachen.
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