
Werther. „Es gibt wohl kaum einen Tag während des Zweiten Weltkriegs, der sich so stark ins kollektive Gedächtnis Bielefelds geschrieben hat, wie der 30. September 1944“, schreibt der Bielefelder Historiker Bernd J. Wagner. Was für Bielefeld gilt, lässt sich wahrscheinlich auch über Werther sagen. Denn der Luftangriff auf die benachbarte Großstadt hatte auch auf Werther Auswirkungen, die großes Leid in viele Familien brachten.
Direktes Ziel von Luftangriffen war die Böckstiegelstadt bis dahin nicht gewesen. Aber der große Angriff auf die Bielefelder Innenstadt traf auch Werther ins Mark. Um 13.49 Uhr wurde an diesem sonnigen Samstag in Bielefeld Fliegeralarm ausgelöst. Auch in Werther, so schreibt es Erika Stieghorst in der Chronik „1.000 Jahre - von wartera bis Werther“ ging der Alarm los, um Feuerwehr und Luftschutz zu alarmieren.
Doch nicht die amerikanischen Bomber erreichten Werther, sondern kurz darauf eine furchtbare Nachricht. Während die Bielefelder Altstadt und nähere Umgebung in einem Feuersturm in Schutt und Asche gelegt wurde, war auch der Kleinbahnhof an der Herforder Straße dem Erdboden gleichgemacht worden. Und an dem warteten - das wusste jeder - zu dieser Uhrzeit vor allem Schüler und Schülerinnen, um mit dem Mittagszug zurück nach Werther zu fahren.
Menschen flohen voller Panik
Unter ihnen war auch der damals 14-jährige Wertheraner Günter S., der sich vor einigen Jahren in einem öffentlichen Interview an die schlimmsten Minuten seines Lebens erinnerte. Gemeinsam mit seiner fünf Jahre älteren Schwester Lisa saß er in dem gerade losfahrenden Werther’schen Otto, wie der Kleinbahnzug hieß, als ihnen Rauchzeichen am Himmel auffielen, die wohl als Zielmarkierungen für das heranrückende Bombergeschwader galten.
»Plötzlich fielen überall um uns herum Brand- und Sprengbomben. Ich habe die Arme schützend um meinen Kopf geschlungen und bin einfach nur raus aus dem Zug. Lisa genauso«, sagte er damals im Interview. Zwischen Menschen, die sich voller Panik in Sicherheit zu bringen versuchen, durch Feuer und Geschrei rennt der Junge und kann sich erst wieder daran erinnern, wie er an einem Bahndamm liegt und sich von da aus - vorbei an verkohlten Leibern und abgerissenen Gliedmaßen - im Keller eines Hauses in Sicherheit bringt.
Seine Schwester Lisa sollte er nie wiedersehen. Sie überlebte das Inferno nicht, genau wie 12 Schülerinnen und Schüler aus Werther und weitere 14 zumeist junge Wertheraner. Viele Angehörige hatten sich, als die Nachrichten von dem Angriff in Werther die Runde machten, auf den Weg nach Bielefeld gemacht, um ihre getöteten oder schwer verletzten Kinder zu suchen. Günter S.’ Schwester Lisa wurde niemals gefunden. Wie und wo sie den Tod gefunden hatte, blieb für ihre Eltern und den Bruder immer ein Rätsel.
Die Kirche konnte die Menschen kaum fassen
Für die anderen Kinder und Erwachsenen wurde in Werther eine bewegende Trauerfeier abgehalten. 26 Särge waren in der Jacobikirche aufgereiht. „Niemals standen vor dem Altar so viele Särge, und die Kirche konnte die von Kummer und Leid erfüllten Menschen kaum fassen“, erinnert sich Erika Stieghorst in ihrer Chronik.
Und sie erzählt auch, dass die Vertreter der NSDAP in Werther die Feier nicht in der Kirche abhalten lassen wollten, sondern in der Turnhalle - gegen den Willen der Trauergemeinde. Doch dieses Vorhaben scheiterte am mutigen Auftreten einer Mutter, die ihre 14-jährige Tochter, das 3. Kriegsopfer der Familie, verloren hatte. Sie stellte sich dem Vorhaben energisch entgegen: „Die Partei kann die Särge in die Turnhalle bringen, die Trauergäste aber werden in der Kirche sein.“
Können Sie sich noch an den Luftangriff und das, was er in Werther ausgelöst hat, erinnern? Oder haben Ihnen Zeitzeugen davon berichtet? Dann melden Sie sich gerne bei uns: Tel. 05201/15145 oder silke.derkum@haller-kreisblatt.de.