
Halle. Auf der Station 5 des Klinikums Halle ist es in der Regel nicht sehr laut. Senioren schlendern am Rollator in Richtung ihres Zimmers, das Display an der Decke des Flures weist darauf hin, dass ein Patient Hilfe auf dem WC benötigt, und am Ende des Ganges rollt der Wagen mit dem leeren Geschirr vom Mittagessen für die Patienten der Geriatrie zurück in die Küche. Es ist Dienstag, kurz nach 16 Uhr, und die letzten Türen schließen sich gerade wieder. Nur eine Stunde zuvor hatten sich die Klavier-Klänge bekannter Schlager aus einem Nebenraum kommend über den Stationsflur ausgeweitet.
„Natürlich habe ich heute auch wieder ’Griechischer Wein’ von Udo Jürgens gespielt“, sagt Daiga Arning, die Frau am E-Piano. Den Hit aus dem Jahr 1974 wünschen sich ihre Zuhörer, die Patienten der Geriatrie-Abteilung, eigentlich an jedem Dienstag, wenn die Musiktherapeutin eine Stunde lang mit den Seniorinnen und Senioren musiziert und singt. Arning spielt das Lied von den griechischen Gastarbeitern und deren Sehnsucht nach ihrer Heimat auch gerne, obwohl sie es bis vor einigen Jahren noch gar nicht kannte.
Schließlich ist die Schwiegertochter des früheren Superintendenten Wilhelm Arning gebürtige Lettin. Vor 25 Jahren kam die heute 49-Jährige nach Deutschland, seit 2007 lebt sie in Halle. Ihr musikalisches Repertoire bestand damals in erster Linie aus lettischen Volksliedern. Nun aber galt es, vor allem die Noten der Schlagerwelt aus den 1960er- und 1970er-Jahren aufzusaugen und zudem auch Klassiker wie „Der Mond ist aufgegangen“ oder „Am Brunnen vor dem Tore“ spontan über die Tastatur gleiten zu lassen.
Manchmal verirrt sich ein lettisches Weihnachtslied in die Playlist
„Am Anfang habe ich auch noch viele dieser deutschen Volkslieder gespielt, aber in den vergangenen fünf Jahren hat sich das sehr geändert“, sagt Arning. „Die heute 70-Jährigen hören halt lieber Rolling Stones, das war ihre Zeit“, sagt die Therapeutin.
Die Musiktherapeutin, die in Magdeburg auch Musikpädagogik studiert hat, hat seit 13 Jahren eine 30-Prozent-Stelle im Katharina-von-Bora-Haus in Versmold. Seit Anfang August hat sie nun auch den Job auf Honorarbasis im Haller Klinikum. Einmal pro Woche, dienstags um 15 Uhr, kommt sie mit ihrem Bollerwagen vorbei, packt ihr E-Piano, ihre Liederhefte und Instrumente aus und beginnt mit den Patienten zu singen und zu musizieren. „Ich wohne hier gleich um die Ecke, darum ist es kein Problem für 60 Minuten vorbeizukommen“.
„Musik gibt Sicherheit und Vertrauen, besonders bei verwirrten Menschen kann Musik für einen Moment Ruhe und Geborgenheit geben“, erklärt Arning. Musiktherapien, die von den Krankenkassen nicht finanziert werden, bieten die Möglichkeit, mit neuen Situationen besser umgehen zu können, und sie nehmen die Angst in einer fremden Umgebung. „Eine wichtige Rolle spielen hierbei vertraute Lieder, die mit bestimmten Erinnerungen verbunden sind“, sagt Arning. Ganz in Weiß von Roy Black sei da auch ein Paradebeispiel, aber es besteht dann auch immer die Gefahr, dass das Hören des Liedes auch traurige Erinnerungen und somit negative Gefühle weckt.
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Musik verjagt depressive Gedanken und Ängste
„In der einen Stunde hier im Klinikum kann ich keine tiefgreifende Therapie anbieten. Es geht vielmehr darum, einfach eine schöne Stunde zu erleben und auf andere Gedanken zu kommen“, erklärt die 49-Jährige. „Ich weiß nie, was hier passiert und kann mich nicht vorbereiten.“ Mal reiche bei den Senioren die Kraft gerade mal, um mit dem Fuß mitzuwippen, mal offenbaren sie aber auch ungeahnte Kräfte und singen laut mit. „Vor zwei Wochen war eine alte Dame hier, die hat sich direkt selbst ans E-Piano gesetzt und hat losgespielt“, sagt Arning.
„Fünf bis acht Leute sind immer da. Die erste Strophe eines Liedes kennt noch jeder, danach zeigt sich dann, wer ein wahrer Musikexperte ist. Es muss ja nicht jeder lautstark mitsingen. Vielleicht brummt mal jemand leise mit, das brauchen wir auch“, sagt die gebürtige Lettin, die auch im Bach-Chor aktiv ist. Es gilt, dabei zu sein und sich zu öffnen.
„Viele Menschen hier sind depressiv. Mit Musik kommen sie wieder auf andere Gedanken“, sagt Dr. Christine Conrad, Leitende Oberärztin der Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie und Geriatrie am Klinikum Halle. „Bewegen, singen und Musikhören - das sind gleich mehrere Dinge, denen man nachgeht. Das ist besonders bei Demenzerkrankungen eine gute Sache. Selbst diese 60 Minuten können Fortschritte bewirken“, sagt Dr. Conrad. Wer die Hände zum Takt bewegt, stärkt nicht nur die Arme, sondern auch die Beine. „Der Zusammenhang ist tatsächlich erwiesen“, sagt die Medizinerin, die seit 25 Jahren im Haus tätig ist und seit 2010 die Geriatrie leitet. „Im vergangenen Jahr hatten wir 344 Patienten, es gibt bis zu 28 Betten, die sich die Innere Medizin und die Geriatrie je nach Bedarf aufteilen. In der Regel verlassen die Patienten die Station 5 wieder nach einer 14-tägigen Komplexbehandlung.
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Förderverein des Klinikums Halle sichert Projekt für ein Jahr
Dass Arning überhaupt pro Woche 60 Minuten lang die Patienten aufmuntern kann, ist dem Förderverein des Klinikums Halle zu verdanken. Aus dem Pflege-Team heraus war die Idee nach solch einem Angebot an Dr. Conrad herangetragen worden. „Wir haben kurz überlegt und dann ging alles sehr schnell“, sagt Maria Heckmann, Vorsitzende des Fördervereins. Der Verein hatte noch ein wenig Geld zur Verfügung, so dass für ein Jahr eine Musiktherapeutin auf Honorarbasis verpflichtet werden konnte. „Das Projekt läuft jetzt ein Jahr auf Probe, dann müsste man weiterschauen, ob es vielleicht durch Sponsoren weitergeführt werden kann“, sagt Heckmann.
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