Wie konnte Elisabeth R. in Halle trotz ihrer Demenz spurlos verschwinden?

Halle. Es ist der erste Junitag. Ein Sonntag. Der Himmel ist leicht bewölkt, das Thermometer klettert knapp über 20 Grad. Nach dem Stadtfest Haller Willem drei Tage zuvor ist es in der Lindenstadt deutlich ruhiger geworden, dennoch spazieren viele Bürger durch die Stadt, sitzen im Garten am Grill oder halten einen Plausch mit dem Nachbarn. Gegen Mittag zieht sich die 88-jährige Elisabeth R. im Altenzentrum Eggeblick am nördlichen Rand der Innenstadt ihre graue Hose und ein gestreiftes Oberteil an, schnappt sich eine blaue Weste und eine gleichfarbige Sommerjacke und geht, gestützt von ihrem Rollator, los. Dies hatte die an Demenz erkrankte Hallerin schon tags zuvor versucht, war jedoch nach wenigen Metern gestürzt und hatte sich dabei leichte Blessuren zugezogen. Sonntag jedoch verließ sie das Seniorenheim erneut. Und fünf Tage später fehlt trotz intensiver Suchaktionen durch die Polizei per Hubschrauber, Drohnen, Hundertschaft und Hunden von der Seniorin jede Spur. Sie lebte erst seit wenigen Tagen in der Einrichtung, ihr Wohnhaus liegt ganz in der Nähe an der Apothekerstraße. Wollte sie dahin zurück? Oder zum Grab ihres 2017 verstorbenen Mannes in Werther? Spuren, die auf Zeugenbeobachtungen beruhen oder das Auslesen der Fährte durch einen dafür ausgebildeten Schweißhund, führen auch zum Haller Bahnhof, zur Tankstelle an der Alleestraße und in den Ravenna-Park. Die zentrale Frage ist dabei: Kann eine 165 Zentimeter große Frau mit Rollator, die an Demenz erkrankt und durch einen Sturz angeschlagen ist, überhaupt solche Strecken bewältigen? Im Schnitt endet eine Demenz nach acht Jahren mit dem Tod &bdquo;Eine Demenzerkrankung ist ein breites Spektrum“, sagt Dr. Christine Conrad, Leitende Oberärztin der Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie und Geriatrie, am Klinikum Halle. &bdquo;Erste Anzeichen sind Schlafstörungen, hinzu kommt, dass die Orientierung verloren geht und es verstärkt zu Wortfindungsstörungen kommt“, erklärt die Fachärztin für Geriatrie. Dabei sei das Kurzzeitgedächtnis stärker betroffen als das Langzeitgedächtnis. &bdquo;Neue Wege werden nicht mehr gefunden, während alte und bekannte Ziele noch funktionieren“, sagt Conrad. Lesen Sie auch: Polizei veröffentlicht neues Foto Eine Demenzerkrankung verlaufe dabei völlig unterschiedlich: &bdquo;Im Mittel beträgt die Lebensdauer bei einer Demenzerkrankung etwa acht Jahre ab der Diagnose“, sagt Conrad. Der Verlauf der Erkrankung könne stark variieren, je nach der spezifischen Demenzform, dem Alter der Betroffenen und anderen Faktoren. &bdquo;Außerdem gibt es gute und schlechte Tage“, bestätigt die Medizinerin. Dinge, die man eigentlich für unmöglich hält, funktionieren plötzlich wieder. Neue Kräfte können freigesetzt werden, und eben das macht den Vermisstenfall Elisabeth R. auch so kompliziert. Hat die alte Dame trotz des Rollators und der schweren Erkrankung doch noch Wege bewältigen können, die man ihr nicht zugetraut hätte? &bdquo;Schwierig wird es, wenn Alltagsaktivitäten nicht mehr funktionieren. Man vergisst, den Herd auszuschalten, oder zieht Kleidung falsch herum an“, weiß Christine Conrad. Bei der schwersten Stufe von Demenz können die Patienten nicht mehr sprechen und verlernen mitunter auch zu schlucken, was die Nahrungsaufnahme erschwert. &bdquo;Es gibt Schwankungen bei den Symptomen, aber generell ist es wichtig, ein gewohntes Umfeld beizubehalten“, sagt die Oberärztin. Sei dieses gegeben, gehe es den Patienten besser als in einer neuen Umgebung. Dennoch lebten sie halt oft in ihrer ganz eigenen Welt. Fotobücher können Erinnerungen wecken und den Alltag erleichtern &bdquo;Wir bitten die Angehörigen unserer Patientinnen und Patienten immer, sie häufig zu besuchen und Bilder oder Fotobücher mitzubringen“, fährt Dr. Conrad fort. Gewohnte Dinge helfen, den Alltag zu bewältigen. &bdquo;Aber es kann auch bei uns immer mal vorkommen, dass jemand die Station verlassen möchte. Daher nutzen wir Demenzarmbänder, die einen Alarm per Telefon auslösen, sobald der Patient die Station verlässt“, erklärt Conrad. Demenziell erkrankte Menschen hätten oftmals einen großen Bewegungsdrang. &bdquo;Diese Armbänder sind jedoch juristisch gesehen ein Eingriff in die Grundrechte“, erklärt die Medizinerin. Es bedarf daher einer expliziten Einverständniserklärung. Lesen Sie auch: Halle im Ausnahmezustand &bdquo;Die Bewohnerinnen und Bewohner im Eggeblick können sich im Haus und auch außerhalb des Hauses jederzeit frei bewegen“, hatte Claudia Schröder, Pressesprecherin des Evangelischen Johanneswerks Anfang der Woche erklärt. Das dortige Betreuungskonzept ist somit etwas lockerer als im Klinikum. &bdquo;Die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Angehörigen entscheiden sich bewusst für dieses Konzept. Wir wollen ganz bewusst niemanden einsperren“, erklärte Schröder. Oftmals fassen Außenstehende schon schlechtes Hören als Demenz auf. Daher ist es wichtig, klar und deutlich mit der betroffenen Person zu sprechen. &bdquo;Gleichwohl führt aber auch schlechtes Hören zu Demenz“, berichtet Christine Conrad. Warum jemand an Demenz erkrankt, ist derweil noch unklar. Neueste Theorien besagen, dass auch Feinstaub eine Rolle spielen könnte. Sicher ist, dass es immer mehr demenzerkrankte Menschen gibt, bedingt auch dadurch, dass die Gesellschaft immer älter wird. Das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend schätzt, dass aktuell in Deutschland rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenz leben. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Betroffenen voraussichtlich auf 2,8 Millionen steigen. Wie eine Demenz hinausgezögert werden kann &bdquo;Man kann einer Erkrankung aber vorbeugen“, sagt die Medizinerin auch. &bdquo;Tanzen, Musikhören aber auch Bewegung allgemein wie etwa Gartenarbeit kann die Demenz hinauszögern.“ Je mehr Sinne gleichzeitig beansprucht werden, umso besser. Bei einer Begegnung mit einem Demenzerkrankten sei es gut, diesen direkt anzusprechen und Vertrauen aufzubauen. Problematisch könnte hingegen nach so vielen Tagen die Versorgung mit Flüssigkeit sein. &bdquo;Gerade bei Senioren kann es schnell zu einem Nierenversagen kommen. Das sieht nach so vielen Tagen langsam schlecht aus“, dämpft Dr. Conrad die Hoffnung auf einen guten Ausgang dieser Suche. Generell sagt man, dass ein Mensch drei bis vier Tage ohne Wasser überleben kann. Im Extremfall, dann jedoch auch eine gute körperliche Verfassung vorausgesetzt, ist auch ein Überleben bis zu zwölf Tagen möglich. Die Zeit rennt den Suchenden langsam davon, und die Fragezeichen im Vermisstenfall Elisabeth R. werden nicht kleiner. Dennoch hofft wohl ganz Halle noch auf das Wunder. Aktuelle News bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal des HK

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