
Als Kevin Kühnert im vergangenen Herbst seinen Rücktritt erklärte, kam diese Entscheidung scheinbar aus dem Nichts. Der ehemalige Juso-Chef und spätere SPD-Generalsekretär, der für viele als das größte politische Talent der SPD galt, führte gesundheitliche Gründe an. „Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden“, erklärte der 35-Jährige damals. Jetzt hat er in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ über die Gründe gesprochen, die ihn dazu bewegt hatten, aufzuhören.
Was er da alles berichtet, macht einen mindestens mal betroffen. So komprimiert zu lesen, was allein Politikerinnen und Politiker wie er aushalten müssen, um dann eben an einem bestimmten Punkt zu kapitulieren, ist ebenso beklemmend wie nachvollziehbar. Und all das in einer Zeit, da gerade wieder der (kommunale) Wahlkampf an Fahrt aufnimmt, während auf Bundesebene die AfD in dieser Woche laut n-tv-Trendbarometer erstmals an der Union vorbeiziehen konnte.
Kühnert berichtet davon, wie er im Stadion von einem Fußballfan angebrüllt worden sei, der sich als AfD-Wähler zu erkennen gegeben habe: „Ich hasse dich.“ Wie Demonstranten während der Bauernproteste vor der SPD-Parteizentrale angerückt seien und selbst gebaute Galgen aufgestellt hätten. Oder wie er in einer Straßenbahn in Halle an der Saale gesessen habe und Menschen darüber geredet hätten, wie sie ihm „die Fresse polieren“. Am Ende habe er den Glauben daran verloren, gegen den Hass ankämpfen zu können, der vor allem auf Social Media verbreitet werde.
Statt Hasstiraden im Wahlkampf mehr Toleranz üben

Mit Hasstiraden im Netz haben wir bei der redaktionellen Arbeit auch reichlich Erfahrung. Und stellen in diesem Zusammenhang immer öfter fest, dass es fast nur noch zwei Meinungen gibt: dafür oder dagegen, schwarz oder weiß. Stattdessen kaum noch jene Zwischentöne, die es für ein verträgliches und respektvolles Miteinander unbedingt braucht. Die Voraussetzung dafür ist, um Toleranz trotz unterschiedlicher Haltung wieder neu zu etablieren. Indes, in dem Ausmaß, das Kühnert beschreibt, erleben wir es lange nicht.
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Ich behaupte mal, dass auch jene Kandidatinnen und Kandidaten, die sich in diesen Wochen in unserer Region für einen Sitz im Stadt- oder Gemeinderat bewerben, die für das Amt des Bürgermeisters oder der Bürgermeisterin kandidieren beziehungsweise Landrat oder Landrätin werden wollen, nicht diesen Repressalien ausgesetzt sind. Nicht in der von Kühnert beschriebenen Form. Und dennoch brauchen alle miteinander neben Zeit und Fachwissen mehr denn je vor allem Rückgrat, Energie, Überzeugungskraft, Nachsicht, Menschenfreundlichkeit und natürlich Idealismus. Und so viel ist auch klar: In dem Augenblick, da sie sich mit ihren Ansichten und Überzeugungen in die Öffentlichkeit begeben, setzen sie sich automatisch bestimmten Risiken aus. Müssen sich dauerhaft erklären, werden noch so kleine Fehler öffentlich, wird ihr Handeln gnadenlos bewertet und verurteilt – all das müssen sie aushalten.
Kandidatinnen und Kandidaten für Kommunalwahl mit Respekt begegnen
Vor diesem Hintergrund sollten wir mit umso größerem Respekt anerkennen, wie viele Menschen sich aus unserer demokratischen Mitte heraus aktuell bereit erklären, die drängenden Themen in unseren Städten und Gemeinden anzugehen: Nachdem in Halle Bürgermeister Thomas Tappe (CDU) als Amtsinhaber frühzeitig seine neuerliche Kandidatur erklärt hat, gibt es in Friederike „Freddy“ Hegemann von den Grünen seit dieser Woche die erste Gegenkandidatin. Und auch die SPD erwägt noch, jemanden aus den eigenen Reihen ins Rennen zu schicken.
In Werther hat Bürgermeister Veith Lemmen (SPD) seinen Hut erneut in den Ring geworfen, nachdem sich der parteilose Hannes Dicke-Wentrup als erster aus der Deckung gewagt hatte. In Steinhagen bewirbt sich Bürgermeisterin Sarah Süß (SPD) um eine zweite Amtszeit, während die CDU René Seidel als Gegenkandidaten nominiert hat. In Borgholzhausen stellt sich der amtierende Bürgermeister Dirk Speckmann (SPD) erneut dem Votum der Wählerinnen und Wähler – ob es weitere Mitbewerber gibt, ist noch offen. Und in Versmold fordert Lars Lehmann (SPD) Bürgermeister Michael Meyer-Hermann (CDU) heraus.
Bewusstsein dafür, dass der politische Gegner auch recht haben könnte
Das ist jetzt schon eine veritable Auswahl, die uns geboten wird. Welch ein unschätzbares Gut! Gerade jetzt, da unsere liberale Demokratie gefährdet ist und da am Fundament unserer freien Gesellschaft geruckelt wird. Das gilt erst recht für die vielen Kommunalpolitikerinnen und -politiker, die sich ehrenamtlich für ihre Heimatkommunen engagieren möchten.
An dieser Stelle lässt sich übrigens wieder ganz gut der Bogen zu Kevin Kühnert spannen. Wie er der „Zeit“ jetzt ebenfalls berichtete, habe er sich vor Jahren in einen Mann mit einem FDP-Parteibuch verliebt. Durch die Beziehung habe er neu erkannt, wie wichtig der respektvolle Umgang mit politisch Andersdenkenden sei. Und sie habe erneut das Bewusstsein geweckt, dass der politische Gegner auch recht haben könne. Das ist doch mal ein Ansatz! Aktuelle Nachrichten bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal des HK