Halle. „Lotto brauchst du jetzt nicht mehr spielen. Du hattest schon deine sechs Richtigen mit Zusatzzahl und Spiel 77“, sagt Anke Reinhold und schaut dabei ihren Mann an. Der sitzt neben ihr auf dem Sofa und nickt zustimmend. Seinen persönlichen Glücksvorrat hat Ulrich Reinhold wohl im vergangenen Herbst mehr als ausgeschöpft. Der 62-Jährige wurde innerhalb von fünf Tagen drei Mal wiederbelebt. Es gleicht einem Wunder, dass er nun in seinem Wohnzimmer sitzt. Offenbar hat er den Lebensjackpot geknackt - wer braucht da noch 49 weiße Bälle in einem kugeligen Ziehungsgerät.
An dem Tag, der sein Leben gravierend verändern sollte, erinnert er sich genau. „Es war der 28. August 2024, ein Mittwoch. Alles war ganz normal, ich fühlte mich gut und wir hatten meine Eltern zu uns zum Frühstück eingeladen, da sie ihren Hochzeitstag feierten“, erzählt Reinhold. Plötzlich bekommt der Frührentner, der schon länger unter Herz- und Lungenproblemen leidet, wie aus dem Nichts starke Bauchschmerzen und Schweißausbrüche. Nach einem Anruf bei der Hausärztin wird er umgehend ins Haller Klinikum gebracht.
Eigentlich wollte er gemeinsam mit seiner Frau zwei Wochen später im Flieger Richtung Kreta sitzen, aber nun geht es stattdessen per Rettungswagen ins Klinikum Halle. Dort diagnostiziert man eine akute Pankreatitis, eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Da der Haller stark geschwächt ist und seine Herzleistung nur noch bei 15 Prozent liegt, entscheidet der verantwortliche Arzt, dass Reinhold umgehend ins Klinikum Bielefeld-Mitte verlegt wird.
Morphium raubt dem Haller jeden klaren Gedanken
Dort erfolgt dann die in diesen Fällen übliche Therapie. Der 62-Jährigen erhält viel Flüssigkeit und Schmerzmittel. „Ich habe Morphium und weitere Opiate erhalten. Es war eine Woche ganz schlimm. Ich war total weggetreten, hatte Halluzinationen und habe Selbstgespräche geführt“, sagt Reinhold. Er sieht seine Frau neben sich sitzen, obwohl diese gar nicht da ist, beschimpft die Krankenschwestern und bezeichnet sein Krankenzimmer lautstark als „Vorhof zur Hölle“.
„Ich bin eigentlich kein aggressiver Typ, und das tut mir alles sehr leid“, sagt Reinhold. Man habe viel Arbeit mit ihm gehabt. „Die mussten mich am Bett festschnallen, weil ich abhauen wollte.“ Der Frührentner ist nicht mehr Herr seiner Sinne, zudem geht es gesundheitlich weiter bergab. Er erleidet ein akutes Nierenversagen und wird an eine Dialyse-Maschine angeschlossen.
Schließlich setzt man das Morphium ab und Reinhold wird auf die kardiologische Station verlegt. Alle haben die Hoffnung, dass sich sein Zustand verbessert, stattdessen aber steht er kurz vor einem erbitterten Kampf gegen den Tod.
Schnelle Reaktion rettet dem Haller das Leben
„Nur einen Tag nach der Verlegung gingen bei mir plötzlich die Lichter aus. Ich kann mich an nichts mehr erinnern“, sagt Reinhold. Das Krankenhausteam reagiert umgehend, es erfolgt eine Reanimation. „Es war ein Kammerflimmern. Dann muss alles ganz schnell gehen. Wird man nicht innerhalb von zwei Minuten versorgt, ist es wahrscheinlich schon zu spät“, sagt Reinhold. Einen Tag später wiederholt sich die Situation, drei Tage darauf sogar zum dritten Mal, als ihn gerade seine Eltern im Klinikum besuchen. Jedes Mal schaffen es die Ärzte, Reinhold ins Leben zurückzuholen. Und vier Monat später sitzt der 62-Jährige wieder zu Hause auf dem Sofa.
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„Es ist nicht selbstverständlich, dass man drei Reanimationen übersteht“, weiß Ulrich Reinhold. Und er ist dankbar dafür, dass alle so schnell reagiert haben. In seinem Fall war es ein Vorteil, dass er im Krankenhaus war. Wäre er auf der Straße oder zu Hause umgekippt, hätte er keine Chance gehabt.
„Ich möchte mich bei allen bedanken, ich wurde in den Krankenhäusern in Halle und Bielefeld top betreut. Das war erste Klasse“, sagt Reinhold. Er habe tolle und empathische Fachkräfte kennengelernt, und ein Extralob gibt es für Schwester Yvonne und Schwester Martina. „Was die geleistet haben, ist aller Ehren wert“, sagt Reinhold und kämpft mit den Tränen. Gerne denkt er auch an seinen Zimmerkollegen Viktor zurück, der ihm immer zur Seite stand, obwohl er ja selbst medizinische Hilfe benötigte.
Das neue Leben ist ein ganz anderes
„Es ist ein Glück, dass ich noch einmal ins Leben zurückgefunden habe. Ich habe auch im Krankenhaus immer meinen Humor behalten, aber jetzt weiß ich umso mehr, wie wichtig es ist, Spaß zu haben und zu leben“, sagt der Frührentner, dem mittlerweile ein Defibrillator und ein Herzschrittmacher eingesetzt wurden. Sein Herz ist jetzt stabil, es leistet immerhin 35 Prozent von dem, was es bei einem gesunden Menschen leisten könnte.
„Ich war nie sehr gläubig, aber jetzt hat mich der Glaube an Gott gestärkt. Ich rede jeden Tag mit ihm und danke ihm, dass ich noch hier sein darf“, sagt Reinhold. Trotz allem versinkt er aber auch manchmal in Schwermut, das trübe Winterwetter fördert zudem die depressiven Gefühle. „Es ist schon schwer zu akzeptieren, dass es nicht mehr so geht wie vorher“, sagt Reinhold, während er geschwächt auf seinem Sofa sitzt und durchs Fenster in den grauen Dauernebel schaut. Er müsse vieles noch verarbeiten und akzeptieren, dass er sich nur langsam ins Leben zurückkämpfen kann.
Er wird wohl nie mehr der Alte sein. Keine langen E-Bike-Touren mehr, keine weiten Reisen, selbst längere Autofahrten sind wohl zu anstrengend. „Mein Leben hat sich verändert“, sagt er und weiß gleichwohl, dass er froh sein kann, überhaupt noch leben zu dürfen. „Ich hätte halt gedacht, dass es schneller geht, wieder zurückzufinden“, sagt Reinhold.
Haller möchte gerne wieder mit dem Hund Gassi gehen
Er muss sich bremsen, setzt sich kleine Ziele. „Im Moment kann ich nur mit dem Rollator ein paar Meter gehen. Vielleicht schaffe ich ja bald die kleine Gassirunde mit unserem Hund Archie auch wieder alleine“, sagt der 62-Jährige. Möglicherweise klappt es auch schon im Mai mit einem Urlaub an der polnischen Ostseeküste oder im Herbst mit dem Kreta-Comeback. Und wenn nicht, dann ist es auch egal. Es gibt wichtigere Dinge im Leben. „Das Wichtigste ist doch, dass wir uns haben“, sagt er und nimmt seine Frau Anke in den Arm.

