Halle. Erika Puhlmann pflegt seit vielen Jahren ihren Mann, der an Parkinson erkrankt ist. Die ehemalige Leiterin der Grundschule Gartnisch kann diese Situation zu Hause leisten, weil sie Unterstützung hat. Unterstützung vom Palliativteam der Diakonie. Mit vier Vollzeitstellen versorgt es Sterbende und Schwerstkranke im Nordkreis Gütersloh, ist 24 Stunden am Tag erreichbar. Die Mitarbeitenden sind für die besonderen Erfordernisse der Palliativpflege ausgebildet. Ihre Präsenz und ihr Fachwissen geben Angehörigen die Sicherheit, eine Pflege in den eigenen vier Wänden leisten zu können. Diese Sicherheit wird schwinden. Denn der Versorgungsvertrag mit den Krankenkassen wurde von der Diakonie Halle zum 31. März gekündigt. Danach sollen die Palliativpatienten von den normalen Pflegediensten versorgt werden.
Erika Puhlmann kann das nicht verstehen: „Da ist eine Truppe, die so arbeitet, wie wir es uns alle wünschen, die fachlich bestens ausgebildet ist. Und die zerschlägt man jetzt.“ Seit zwei Jahren arbeite sie mit den Palliativ-Fachkräften zusammen. „Ich bin unendlich glücklich und zufrieden, dass sie an meiner Seite sind. Die Qualität der Betreuung macht sicher.“ Die Entscheidung, dieses Angebot nun einzustellen, hält sie für „schlichtweg falsch“ und vermutet, dass in erster Linie finanzielle Gründe dafür verantwortlich sind.
Schritt in die völlig falsche Richtung
Heiko Kaiser
Sterben verbindet. Klingt paradox, ist aber so. Denn sterben müssen wir alle. Wenn sich daher die Rahmenbedingungen der Sterbebetreuung verschlechtern, geht das uns alle an und sollte tief beunruhigen. Doch der empörte Aufschrei im Land bleibt aus. Diejenigen, die es aktuell angeht, haben meistens nicht die Kraft zu protestieren. Und der Rest will sich offensichtlich nicht mit dem Thema auseinandersetzen. Nach einer Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands gibt jeder und jede zweite an, zu Hause sterben zu wollen. Nur drei Prozent nennen das Krankenhaus, ein Prozent das Altersheim. Doch die Realität sieht ganz anders aus. 60 Prozent der Menschen tun ihren letzten Atemzug in einer dieser Einrichtungen. Viele von ihnen kommen nur deshalb in die Klinik, weil es kein entsprechendes Palliativangebot gibt. Pflegedienste und Pflegende wollen zwar, können beziehungsweise dürfen aber nicht schwerkranken Menschen die Zeit widmen, die im Sterbeprozess angemessen und menschlich notwendig wäre. Ein knallhartes Bewertungssystem schreibt stattdessen vor, wie viele Minuten für welche Tätigkeit angemessen sind. Doch jeder Tod ist anders und lässt sich eben nicht in ein effizienzgetriebenes Standardformat pressen. Was braucht der oder die Sterbende? Das ist die entscheidende Frage. Aus ihr allein muss die Leitlinie des Handelns erwachsen, unabhängig von Zeit- und Kostenfaktoren. Ganz egal, welche Gründe auch für die Auflösung des Palliativteams ausschlaggebend waren, es ist ein Schritt in die völlig falsche Richtung und ein Verlust von Lebens- und Sterbensqualität.
Andreas Riedel, Vorstand der Diakonie Halle, will die Auswirkungen der Entscheidung relativiert wissen. „Die Menschen können sich nach wie vor an uns wenden. Wir lösen die Palliativbetreuung nicht auf. Das Team wird in den einzelnen Diakoniestationen aufgehen. Zukünftig wird die Palliativpflege dezentral von diesen Stationen geleistet“, erklärt er.
Vorbildhafte Einrichtung im Nordkreis Gütersloh wird geschlossen
„Das aber ist definitiv nicht das Gleiche“, sagt Jutta Tischmann, die Leiterin des Palliativnetzwerkes Gütersloh, an das das Palliativteam angeschlossen ist. „Was dieses Palliativteam geleistet hat, kann keine normale Sozialstation leisten“, ist sie sich sicher. Denn die Mitarbeitenden hätten sich schließlich bewusst für den Palliativdienst entschieden und seien genau für dessen Anforderungen ausgebildet . Außerdem: „Sie sind mit Herzblut dabei“, sagt Jutta Tischmann.
Sie weiß um die besonderen Erfordernisse bei der Pflege sterbender Menschen und ist davon überzeugt, dass eine normale Pflegekraft in vielen Situationen schlichtweg überfordert wäre. „Man muss Sterben und Leiden aushalten können und auch in den damit verbundenen kritischen Situationen handlungsfähig bleiben. Genau das konnte das Palliativteam absolut verlässlich.“
Das Palliativteam im Nordkreis Gütersloh sei eine vorbildhafte und auch über die Grenzen des Kreises hinaus eine weithin einmalige Einrichtung gewesen. „Wir hatten gehofft, dieses Modell auch auf andere Kommunen zu übertragen. Nun wird es aufgegeben“, so Jutta Tischmann und fügt hinzu: „Das ist eine Katastrophe“.
Große Betroffenheit im Palliativteam
Sigrid Ellerbrake, die seit 2012 im Palliativteam arbeitet und es seit vier Jahren leitet, erklärt, bei den Mitarbeitenden habe die Nachricht von der Auflösung große Betroffenheit ausgelöst. Sie berichtet aber auch, dass das Team personalbedingt zuletzt oftmals am Rande der Erschöpfung gestanden habe.
Nicht überraschend führt Andreas Riedel daher personelle und gesetzliche Gründe als Ursachen für die Auflösung des Teams ins Feld. „Laut Vertrag mit den Krankenkassen sind wir verpflichtet, zwei Vollzeitkräfte in der Leitung vorzuhalten. Zuletzt aber haben beide Leitungskräfte ihre Stunden reduziert“, sagt er. Auch sei es nicht mehr möglich, die geforderte 24-Stunden-Rufbereitschaft mit dem zur Verfügung stehenden Personal zu gewährleisten. Man habe versucht, intern Fachkräfte zu gewinnen. Das sei nicht gelungen. „Letztlich bräuchten wir 15 bis 18 Personen oder sieben bis acht Vollzeitstellen, um das Angebot, wie von den Krankenkassen vertraglich gefordert, aufrechtzuerhalten“, sagt Riedel.
Palliativpflege mit hohen Defiziten
Doch auch finanzielle Gründe haben möglicherweise eine mitentscheidende Rolle gespielt. 60.000 bis 100.000 Euro Defizit pro Jahr habe der Bereich Palliativpflege in den vergangenen Jahren erzeugt. Spenden von 70.000 Euro seien hier bereits eingerechnet, so Riedel.
Sigrid Ellerbrake will diese Argumente nicht gelten lassen. Zum einen erwidert sie in Richtung Diakonieleitung: „Wir hätten uns gewünscht, dass die Suche nach Fachkräften intensiver durchgeführt worden wäre, als es tatsächlich geschehen ist.“ Auf der anderen Seite formuliert sie Kritik an den grundsätzlichen Rahmenbedingungen der Palliativpflege.
In einem Brief an die Pflegebeauftragte der Bundesregierung Claudia Moll macht sie auf die Auflösung des Palliativteams aufmerksam. Sie kritisiert darin, dass pflegerisches Handeln zunehmend „nicht nach den individuellen Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet wird, sondern nach dem zu erwirtschaftenden Effizienzwert“. Mitarbeitende könnten dabei schnell in eine Zwickmühle geraten: Entweder sie handeln nach ihrem fachlichen Wissen und menschlichem Gewissen, oder sie handeln nach den ihr vorgegebenen Zeiten unter wirtschaftlichem Leistungsdruck und laufen damit Gefahr, unterlassene Hilfeleistung zu begehen.
25 Minuten für die Sterbebegleitung
In einem konkreten Beispiel aus der Praxis des Palliativalltags macht Sigrid Ellerbrake deutlich, was das konkret bedeutet: „Eine Krebspatientin kommt mit gelegentlichen Gaben von 2,5 bis 5 Milligramm Morphin, das unter die Haut gespritzt wird, gut zurecht. Dann erhalten wir einen Notruf. Die Frau hat stärkste Schmerzen mit zunehmender Unruhe und bekommt von uns zweimal 5 Milligramm Morphin in einem Abstand von 20 Minuten gespritzt. Es zeigt fast keine Wirkung. Da sie eine liegende Portnadel hat, rufe ich die Hausärztin auf ihrem Privathandy an und bitte sie, die Morphingabe intravenös anzuordnen und zusätzlich den Bedarfsplan um das starke Beruhigungsmittel Midazolam zu erweitern. Gleichzeitig bitte ich die Tochter, die Atmung der Mutter durch ruhige Ansprache oder leises Summen zu begleiten. Die Maßnahmen greifen schließlich und nach zwei Stunden verstirbt die Patientin ruhig in den Armen ihrer Tochter.“
„Wären wir in diesem Fall dem Gebot der Wirtschaftlichkeit gefolgt, hätte wir bei einem Satz von 44,10 Euro inklusive Fahrtkosten nach 25 Minuten die Situation verlassen müssen, um die Leistung wirtschaftlich zu erbringen. Dieses Handeln wäre aber nicht nur juristisch, sondern auch ethisch-moralisch höchst beklagenswert“, sagt Sigrid Ellerbrake.
Sterbende Menschen ohne Zeitdruck mit professioneller Symptomkontrolle bis zum letzten Atemzug zu unterstützen. 24 Stunden am Tag bereitzustehen, um im Krisenfall für Angehörige da zu sein, Rücksprache mit Ärzten zu halten und bis zum Eintritt des Todes eng an der Seite der Sterbenden und deren Familien zu stehen, das hat das Palliativteam elf Jahre lang geleistet. Und wird es zukünftig nicht mehr leisten können.
„Am Patienten arbeiten - bestenfalls - Hilfskräfte“
„Warum kann man ein so kleines Team nicht einfach durch ein fondgestütztes Finanzierungssystem absichern? Warum müssen wir in einen Markt integriert werden, der im Bereich der Palliativpflege noch nie funktioniert hat?“, fragt Sigrid Ellerbrake.
Sie hat nun ihre persönlichen Konsequenzen gezogen. Nach insgesamt 28 Jahren in der ambulanten Pflege, davon zehn Jahre als Leitung einer Diakoniestation und elf Jahre im Palliativteam hat sie ihren Arbeitsvertrag gekündigt. Sie hat das nicht gerne getan. „Aber die Hürden, diesen Beruf nach fachlichen und humanitären Maßstäben ordentlich auszuführen, werden immer höher“, schreibt sie an Claudia Moll. Und mit der Erfahrung aus 28 Berufsjahren im Pflegebereich urteilt sie: „Hochqualifizierte Pflegefachkräfte, die Krankenbeobachtung und Symptomkontrolle gelernt haben, die Erfahrung haben mit psychosozialer Begleitung von Patienten und Angehörigen, fliehen in aufgeblähte Verwaltungsstrukturen wie Dokumentationen, Tourenplanung und andere Managementaufgaben. Am Patienten arbeiten dann – bestenfalls – Hilfskräfte.“

