Minister Reul warnt vor Erstarken des IS – vor allem Jugendliche gefährdet

Herr Reul, der Bundestagswahlkampf läuft auf Hochtouren. Rechnen Sie mit Gewalt gegenüber Wahlhelfern und Politikern? Bisher haben wir noch keine außergewöhnliche Häufigkeit von Übergriffen oder Gewalttaten festgestellt. So wie das zum Beispiel bei der Europawahl zuletzt war. Das kann noch anders kommen. Generell verlagern sich die Konflikte aber auch eher ins Netz – zum Beispiel Beleidigungen oder Bedrohungen. Das wird wohl auch vor der Wahl noch zunehmen. Worauf müssen wir uns noch einstellen? Wahrscheinlich auf eine Welle an Falschmeldungen. Durch Gruppen, die die Wahl stören wollen oder fremde Mächte, die mit Sicherheit die Stimmung beeinflussen und ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. Damit soll das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratischen Institutionen, in unsere Demokratie geschwächt werden. Noch haben wir zwar keine konkreten gesicherten Erkenntnisse, es wäre aber ein Wunder, wenn das bei uns nicht passiert. Um welche Mächte handelt es sich? Russland etwa. Durch Desinformationskampagnen hat das Land schon mehrfach vor internationalen Wahlen versucht, das politische System zu destabilisieren. &bdquo;AfD lässt sich von amerikanischem Multimilliardär protegieren“ Der US-Milliardär und X-(vormals Twitter-)Besitzer Elon Musk bietet der AfD eine große Bühne. Ist das für Sie auch schon Einflussnahme? Eindeutig, aber natürlich keine staatliche, sondern von einem Einzelnen, der meint, er müsse uns sagen, was wir zu machen haben. Es ist aber auch interessant, dass sich die AfD von einem amerikanischen Multimilliardär protegieren lässt. Themawechsel: Nach dem Beginn des Nahost-Konflikts warnten Sie mehrfach davor, dass die Ereignisse Radikalisierungen und die Gewaltbereitschaft in der Islamisten-Szene befeuern können. Haben sich die Befürchtungen bewahrheitet? Ja. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass es kurz nach dem 7. Oktober zu Demos kam, die nicht alle friedlich geblieben sind. Es gibt generell viele Indizien, dass Menschen, die in irgendeiner Form von dem Konflikt betroffen sind, diesen hier in NRW auf die Straße tragen. Wir schützen jüdische Einrichtungen ja nicht ohne Grund. Es scheint, als wären Antisemitismus und Israelhass salonfähig geworden. Diese Entwicklung beobachte auch ich mit Sorge. Solche Stimmungsbilder sind in NRW mittlerweile stärker als früher – und das nicht nur aus der rechts- oder der linksextremistischen Szene, sondern auch bis in die Mitte der Gesellschaft. Und unsere Dunkelfeldstudie zu dem Thema zeigt, dass gerade viele junge Menschen dafür anfällig sind. Das muss uns sorgen. Wir sehen aber auch: Teilweise wurde Antisemitismus durch Geflüchtete ins Land getragen. Wer in Schulbüchern lernt, dass Israel von der Landkarte verschwinden müsste, wird hier nicht plötzlich eine andere Meinung haben. Islamisten, Rechtsextreme und Linksradikale erhalten Zulauf Extremismus bekommt offenbar generell enormen Zulauf. Ja. Das stellen wir in allen Feldern fest. Egal ob Islamisten, Rechts- oder Linksextremisten – alle verbreiten gerade im Netz ihre demokratieschädigenden Ideologien. Und das überrascht nicht. Krisen sind immer wieder ein Anknüpfungspunkt für Extremisten. In welchem Spektrum sehen Sie die größte Gefahr? Politisch und für die Demokratie im Rechtsextremismus, für Leib und Leben im islamistischen Terrorismus. Welche Entwicklung sehen Sie aktuell in der islamistischen Szene in NRW? Eindeutig die Anschlagsgefahr im Bereich des islamistischen Terrorismus. Diese ist weiterhin abstrakt hoch und kann jederzeit konkret werden. Hinzu kommt die große Gefahr durch selbst radikalisierte, allein handelnde Täter. Bei diesen ist nicht auszuschließen, dass aktuelle emotionale Ereignisse jederzeit zu einer möglichen Tat führen können. Die Sicherheitsbehörden sind hier absolut wachsam. Islamismus ist intensiver und damit noch gefährlicher geworden. Von der Bundesregierung wurden nach dem Beginn des Nahost-Konflikts deshalb auch einige Gruppen verboten, da sehe ich aber noch Luft nach oben. Sie wollen also weitere islamistische oder antisemitische Organisationen verbieten? Ja, sobald die juristischen Voraussetzungen gegeben sind, muss es ein Verbot geben. So wie wir es mit dem Verein &bdquo;Solidarität Duisburg“ gemacht haben. Die meisten dieser Gruppen agieren aber bundesweit. Wir in NRW sind daher nur begrenzt handlungsfähig. Deswegen sehe ich bei der Bundesregierung großen Handlungsbedarf. Terrorgefahr &bdquo;eindeutig“ gestiegen Ist die Gefahr durch islamistischen Terror gestiegen? Eindeutig. In NRW gab es in der Vergangenheit viele verhinderte Terroranschläge. Im Fokus standen oft junge Menschen. Es ist erschreckend, wenn man überlegt, dass viele Verdächtige mit möglichen Anschlagsplänen, die wir in den vergangenen Monaten bei uns festgestellt haben, erst 14, 15 oder 16 waren. Haben Sie eine Erklärung? Es gibt offenbar viele junge Menschen, die nicht stabil und deswegen empfänglich für eine extremistische Ideologie sind. Gleichzeitig gibt es im Netz unzählige Angebote. Videos auf TikTok etwa, die ungefiltert auf die Handys der Kids gespült werden und Propaganda verbreiten. Und drittens gibt es offenbar genug Menschen, die diese Jugendlichen auch ansprechen, erreichen und verführen. Aus dem Prediger in der Moschee ist ein moderner Influencer geworden, der die jungen Leute da erreicht, wo sie die meiste Zeit verbringen. &bdquo;Mehr über die Gefahren im Netz aufklären“ Kann man bei einer solchen Situation überhaupt vor die Lage kommen? Vor allem müssen wir viel dafür tun, dass Menschen für diese Ideologie nicht empfänglich sind. Zudem müssen wir mehr über Gefahren im Netz aufklären. Und die Sicherheitsbehörden wie Polizei und Verfassungsschutz sollten im Netz mehr kontrollieren und auch eingreifen können. Wie wollen Sie es schaffen, dass junge Menschen für terroristische Ideologien nicht mehr so empfänglich sind? Dass solche labilen jungen Menschen wieder stabil in ihrer Grundhaltung werden oder weniger anfällig für solche Rattenfänger sind – egal, ob von rechts, links oder Islamisten – ist eigentlich keine Aufgabe der Sicherheitsbehörden. Sondern? Die Gesamtgesellschaft muss sich fragen, ob sie genug getan hat. Da spielen zum Beispiel Familie und Erziehung, aber auch die Schule eine Rolle. In Hannover wurde kürzlich ein Mann aus Paderborn verhaftet, der sich mutmaßlich in Syrien dem Islamischen Staat anschließen wollte. Gibt es wieder mehr Ausreisen? Und erstarkt hierzulande der IS wieder? Zu steigenden Ausreisen haben wir keine Indizien. Ob der IS wieder erstarkt: ja. Mehr junge Menschen radikalisieren sich und beabsichtigen, sich aktiv dem IS anzuschließen. Sie bleiben aber hier, womöglich um angeleitet durch andere Terroristen zur Tat zu schreiten. Wir sehen auch eine Zunahme junger Klientel mit IS-Bezügen und dynamischen Radikalisierungsprozessen in der Präventions- und Ausstiegsarbeit. Eine große Gefahr geht zudem von den schon erwähnten, sich allein radikalisierenden Einzeltätern aus. Sind wir in NRW überhaupt passend aufgestellt, um solche möglichen Anschläge zu verhindern? Ich habe bei vielen Diskussionen oft den Eindruck, dass vor allem darüber geredet wird, wie man den Verfassungsschutz besser kontrollieren kann, statt ihn passend auszustatten, damit er gut arbeiten kann. Natürlich muss man Polizei und Verfassungsschutz in Grenzen halten. Aber die bestehenden Möglichkeiten insgesamt kaum auszubauen, ist ein Offenbarungseid des Staates. Reul: Verfassungsschutz sollte auch Chats mitlesen können Welche Möglichkeiten wollen Sie in NRW umsetzen? Die Frage ist, wo der Verfassungsschutz bessere Möglichkeiten erhalten muss. Da spielen Technik, Personal und rechtliche Befugnisse eine Rolle. Ein Beispiel: Wir hören aktuell Telefone ab, aber darüber kommunizieren längst nicht alle Extremisten oder Kriminellen. Wir brauchen also viel mehr die Befugnisse, um in Messenger-Diensten mitlesen zu können. Deutschland ist vielmehr auf nachrichtendienstliche Hinweise aus dem Ausland angewiesen. Viele kommen aus den USA. Haben Sie Sorgen, dass der Austausch unter dem neuen Präsidenten Donald Trump schwieriger wird? Trump hätte nichts davon, wenn er sich für Informationen beispielsweise bezahlen lässt oder uns Informationen vorenthält. Der Austausch könnte aber tatsächlich schwieriger werden, zum Beispiel, wenn die USA verstärkt Informationen von uns als Gegenleistung einfordern. Die internationale Zusammenarbeit mit befreundeten Nachrichtendiensten ist enorm wichtig und funktioniert. Das sollte auch so bleiben. Sind die Nachrichtendienste hier überhaupt in der Lage, bisher unbekannte Erkenntnisse an ausländische Dienste zu liefern? In anderen Ländern können die Dienste sicher mehr abgreifen. Wir können dafür aber oft tiefer gehende Erkenntnisse liefern. Das betrifft übrigens auch die Polizei. Im Rahmen von Ermittlungen gegen Kindesmissbrauch und Kinderpornografie liefern wir regelmäßig umfangreiche Informationen ins Ausland. Kriminalität im Netz: &bdquo;Darauf sind wir nicht ausreichend vorbereitet“ Stichwort Polizei. Wo sehen Sie hier die größten Herausforderungen? Definitiv die Ermittlungen im digitalen Raum. Neue Betrugsmaschen, Terrorismus, Kindesmissbrauch – das alles findet im Netz statt. Da sind wir noch nicht ausreichend drauf vorbereitet – technisch, personell und rechtlich. Und zeitgleich lassen andere Kriminalitätsfelder natürlich nicht nach, es wird auch weiterhin Einbrüche und Diebstahl geben. Was fehlt der Polizei in Zeiten von Cybercrime? Wir müssen früher an Informationen kommen, also ähnlich wie der Verfassungsschutz. Es ist auch hier eine Frage der rechtlichen Möglichkeiten bei Ermittlungen. Wir können vieles, dürfen bloß nicht alles.

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