Werther. Wenn sich an den Weihnachtsfeiertagen in den Kirchen die Bänke füllen wie sonst an keinem Tag im Jahr, dann hat das vermutlich zwei Gründe. Zum einen wollen viele am Feiertag von Christi Geburt ihre Christen-“Pflicht“ mit einem Kirchgang erfüllen. Zum anderen, das gehört zur Wahrheit dazu, ist das festliche Ambiente der Weihnachtsgottesdienste einfach ein schöner Rahmen für das Familienfest. Und genau das wäre ohne Orgelmusik nicht denkbar.
Wenn die Organistin im Fortissimo „O du Fröhliche“ anstimmt und die ganze Gemeinde inbrünstig mitsingt, gibt es niemanden, der keine Gänsehaut bekommt. Wenn. Denn wie auch die Zahl der Priester immer kleiner wird, so ist auch der Nachwuchs an Orgelspielern überschaubar.
So ist es keine Seltenheit mehr, dass Gottesdienste - sogar die an Weihnachten - ohne Orgelmusik auskommen müssen. „Wenn dann noch ein Pfarrer da ist, der einen falschen Ton vorgibt, fehlt der Gemeinde einfach der Halt“, sagt Markus Stein. „Orgel ist Kulturgut. Mit einer Orgel ist es immer feierlich.“
Straffällige Organisten halfen früher aus
Der Wertheraner ist Organist mit Leib und Seele. In seinem Haus steht neben einer Hammond-Orgel auch eine digitale Kirchenorgel. Als Organist in der Haller Herz-Jesu-Kirche und im Pastoralverbund ist der Katholik bei Messen oder Andachten im Einsatz. Das Problem der fehlenden Organisten kennt er gut.
Anfang 2024 sprach ihn Diakon Heinrich Bittner an, ob es nicht eine digitale Lösung für das Problem gebe. Bittner selbst war als Gefängnisseelsorger einige Jahre zuvor schon tätig geworden. Er hatte zwei Organisten, die im Gefängnis einsaßen, gebeten, Kirchenlieder einzuspielen und das Spiel auf MP3 für Gottesdienste aufgenommen. „Aber der Klang war natürlich gar nicht gut“, sagt Markus Stein.
„Da muss es doch ein digitales Angebot geben“, war er sich sicher. Doch seine Recherche ergab: Nein, gibt es nicht. Zumindest nicht für den deutschsprachigen Raum und dessen Kirchenlieder, und nicht so, dass man es einfach über das Handy abspielen kann.
App soll Organisten nicht verdrängen
Als Inhaber einer Werbeagentur ist Markus Stein mit der Erstellung und Nutzung digitaler Medien bestens vertraut. Also fing er an, eine Lösung zu basteln. Sein Plan: Eine digitale Mediathek mit den wichtigsten und am meisten gebrauchten Kirchenliedern zu erstellen. Organist des Projekts: er selbst. Der Titel: „Der Notfallorganist“.
„Durch den Titel sollte von Anfang an klar sein, dass mit dem Angebot auf keinen Fall Organisten verdrängt werden sollen, sondern die App nur im Notfall - also wenn niemand zu bekommen ist - eingesetzt werden darf“, sagt Markus Stein.
Im Gotteslob, dem Gesangbuch der Katholiken, stehen weit mehr als 300 Lieder. Um die 100 wichtigsten herauszufiltern, kam das Pastoralteam des Verbundes Stockkämpen mit ins Boot. Heinrich Bittner, Pfarrer und Gemeindereferenten sollten ihre meist genutzten Lieder raussuchen und sich dann auf eine Top100 einigen.
Markus Stein spielt Bückeburger Kirchenorgel bei sich zu Hause
Die wiederum spielte Markus Stein eigenhändig ein - so, wie man sie für einen Gottesdienst braucht. Er kreierte passende Vorspiele für jedes Stück und spielte dann jeweils mehrere Strophen mit unterschiedlichem Klangvolumen und Registern ein. Denn Organisten passen ihr Spiel ja auch daran an, ob sie in einer riesigen Kirche oder in einem kleinen Gemeindesaal, in einem voll besetzten oder fast leeren Raum spielen.
Und auch das Tempo variiert. „Ein geübter Organist hört sofort, wie schnell die Gemeinde zu singen gewohnt ist“, sagt er. „In Stockkämpen spiele ich schneller als in Halle.“ Bei seinem Angebot kann man dies durch die Abspielgeschwindigkeit regeln.
Damit der Klang der Orgel aber auch den Ansprüchen von Kennern genügt, ist auf den Audios nicht die Stein’sche Heimorgel zu hören, sondern die Janke-Orgel der Evangelischen Stadtkirche Bückeburg. „Die hat eine tolle Klangfarbe“, schwärmt Markus Stein. Selbst gesessen hat er an dieser Orgel, die 1996 in ein barockes Gehäuse eingebaut wurde, allerdings bis heute noch nie.
Berühmte Orgeln werden Ton für Ton gesampelt
Aber wie kann er dann alle Stücke auf dieser Orgel eingespielt haben? Markus Stein lächelt und muss dann weit ausholen in die kleine, aber detailreiche Welt der Orgelmusik und ihrer Liebhaber. „Es gibt heutzutage Sample-Sets von besonderen Orgeln, die man kaufen kann“, sagt er.
Vereinfacht gesagt gibt es Leute, die sich die Mühe machen, von jeder der mehr als 10.000 Pfeifen mancher Orgeln einen einzelnen Ton in den verschiedenen Registern aufzunehmen. Diese Samples kann man dann auf digitale Orgeln übertragen, sodass diese mit dem Klang und Ton berühmter Orgeln aus aller Welt gespielt werden können.
Die 100 Stücke aus dem Gotteslob, die er auf diese Weise eingespielt hat, hat Markus Stein in einer digitalen Bibliothek abgelegt, die über einen Media-Player auf dem Handy abgespielt werden kann. „Mit einem guten Bluetooth-Lautsprecher funktionieren die dann in jeder Kirche oder jedem Andachtsraum“, erklärt er.
Upgrades mit protestantischen Liedern
Im Pastoralverbund Stockkämpen ist sein Notfallorganist bereits im Einsatz. Auch in Norddeutschland hat er Abnehmer gefunden. Mit dem Haller Kantor Friedemann Engelbert ist er im Gespräch, auch rein protestantische Lieder aufzunehmen. „Viele Stücke aus dem Gotteslob sind ja ohnehin ökumenisch“, sagt er.
Und auch mit anderen Bistümern hat er Kontakt aufgenommen, denn in katholischen Gesangbüchern gibt es immer noch einen Anhang, in dem nur Lieder stehen, die in dem jeweiligen Bistum gesungen werden. „Sei gegrüßt, Libori“ nennt er als Beispiel aus dem Paderborner Erzbistum, zu dem der Kreis Gütersloh gehört.
Die Sonderwünsche und Eigenheiten könne man dann als Upgrade anbieten, überlegt Markus Stein. Grundsätzlich aber hofft er natürlich, dass viele andere Kirchengemeinden den Notfallorganisten übernehmen. Als Geschäftsidee, aber vor allem, damit die Orgelmusik weiterhin für Feierlichkeit sorgt.
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