Versmold. Wenn heute, am Tag des Kriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus vor 80 Jahren, die Hörbuch-Fassung von Richard Sautmanns Buch zur Geschichte des Nationalsozialismus in Versmold vorgestellt wird, richten sich erneut die Blicke auf die Ereignisse vor Ort. Welche Kampfhandlungen sich in der letzten Kriegsphase im näheren Umfeld vollzogen, welche Opfer es dabei zu beklagen gab, und dass es SS-Einheiten waren, die auch für den Tod unbeteiligter Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter verantwortlich waren, können wir dank Sautmanns Veröffentlichung nicht nur nachlesen, sondern jetzt auch nachhören.
„Ermordet von der SS“, so steht es auf dem Grabstein des polnischen Zwangsarbeiters Leon Greszkowiak. Verschwiegen wird uns diese Todesursache auf den Grabplatten für drei russische Zwangsarbeiter. Drei weitere französische SS-Opfer wurden 1946 exhumiert und andernorts bestattet. Wer war daran beteiligt und ist dafür verantwortlich gewesen? Lassen sich die Täter namhaft machen?
Beginnen wir mit der Spurensuche in Hesselteich. Über den dortigen Einmarsch amerikanischer Truppen berichtet uns Lehrer Hermann Rose in der Schulchronik. Anders als erwartet kamen die rasch vorrückenden Befreier nicht von Harsewinkel, sondern von Greffen entlang der Vorbruchstraße über Niedick. „Als sie etwa bei Lübbert, Hesselteich Nr. 8, von SS-Leuten angegriffen wurden, gehen die Panzer in Stellung und schießen Laugemanns Kotten, Hesselteich Nr. 28, in Brand. Bei dem sich entwickelnden Gefecht fielen 9 SS-Männer und Soldaten und ebenso viele Amerikaner. Ein Tankwagen der Amerikaner wurde in Brand geschossen. [ ] Die erwähnte SS lag in Hesselteich einquartiert, teils in einem Saal und teils im 2. Klassenraum, der beschlagnahmt war.“
5. SS-Panzerdivision „Wiking“ wütet zum Kriegsende in Versmold
Bekannt war bislang, dass es sich bei den SS-Leuten um Angehörige der 5. SS-Panzerdivision „Wiking“ handelte. Eher zufällig hatten sie sich vorübergehend in Hesselteich festgesetzt, denn ihr eigentlicher Auftrag war nicht etwa die Verteidigung Versmolds. Vielmehr waren sie mit 150 Mann nach Deutschland geschickt worden, um im Sennelager bei Paderborn neue Panzer für die Reichsverteidigung zu übernehmen.
Ihr Anführer Karl Nicolussi-Leck schickte am Ostermontag, 2. April, einen Aufklärungstrupp unter dem Kommando des Finnen Ola Olin mit 30 Mann voraus, um einen sicheren Weg nach Paderborn zu finden. Sie trafen jedoch in Harsewinkel auf die 5. US-Panzerdivision, und es kam zu ersten Gefechten. Der Weg nach Paderborn schien also versperrt zu sein und sie sahen sich zum Rückzug gezwungen, in dessen Folge es schließlich zum erwähnten Gefecht in Hesselteich kam. Anschließende Kämpfe bis zum darauffolgenden Tag in Borgholzhausen sollten noch mehr sinnlose Opfer fordern, ehe die Einheit über Melle, Lübbecke und Minden nach Hannover abzog.
Der Krieg in Versmold: Neues Buch über zwölf verbrecherische Jahre
Zwischenzeitlich konnte sie sich durch Beschlagnahmungen neu ausrüsten und zog am 6. April in Hannover ein, wo sie von der Bevölkerung als vermeintlich heldenhafte Verteidiger der Stadt begrüßt wurde. Am 8. April ergatterte Nicolussi-Leck bei Hanomag noch sieben halbwegs einsatzfähige Panzer, von denen zwei am 15. April, nachdem er sich den Amerikanern bei Gifhorn ergeben hatte, zerstört wurden.
Fanatische SS-Formation als Gegenstand von Heldenmythen

Die Verwegenheit dieser Truppe bietet reichlich Stoff für Heldenmythen. Sie schossen unwidersprochen ins Kraut. In Wahrheit handelte es sich um glühendste Verfechter der rassistisch motivierten NS-Eroberungsideologie, hatten sie sich doch als Nicht-Deutsche seit 1940 freiwillig aus den Niederlanden, Belgien, Skandinavien und anderen europäischen Ländern zu einer international-„arischen“ SS-Formation zusammengefunden. Direkt aus der Hitlerjugend kamen 17-Jährige hinzu, deren Sozialisation ausschließlich von der NS-Ideologie geprägt war.
Unter ihnen war auch Jürgen Girgensohn, von 1970 bis 1983 Kultusminister des Landes NRW. Seine Erfahrungen verwandelten ihn ausnahmsweise zum Pazifisten. Die meisten blieben zeitlebens überzeugte Nazis, so auch „Nico“, wie sie ihren Anführer nannten: Karl Nicolussi-Leck, ein italienischer Staatsbürger aus Südtirol.
Die Kenntnisse seiner Biografie sind mittlerweile Wikipedia-Allgemeingut: Nicolussi-Leck war ab 1936 am Aufbau der nationalsozialistischen Organisation „Völkischer Kampfring Südtirol“ wesentlich beteiligt. Er wurde dort bald zu einem der führenden und aktivsten Köpfe und gab seinen Beruf als „politischer Führer und Organisationsleiter der NS-Bewegung in Südtirol“ an. Im Januar 1940 meldete sich Nicolussi-Leck freiwillig bei der Waffen-SS. Er wurde dem motorisierten SS-Infanterie-Regiment „Deutschland“ zugeteilt, mit dem er ab April 1941 am Balkanfeldzug teilnahm.
SS-Hauptsturmführer half anderen Verbrechern bei Flucht nach Argentinien

Ab Juni 1941 wurde er an der Ostfront eingesetzt. Von November 1941 bis März 1942 besuchte er die SS-Junkerschule Bad Tölz. Danach kämpfte er als Untersturmführer in der 5. SS-Panzer-Division „Wiking“ in der Ukraine. Diese Division war an zahlreichen Kriegsverbrechen, so auch an Judenmorden, beteiligt. Mit mehr als einhundert Abschüssen feindlicher Panzer galt „Nico“ als „Panzer-Ass“ und wurde 1944 deswegen zum SS-Hauptsturmführer befördert und mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verhalf Nicolussi-Leck ehemaligen Nationalsozialisten und SS-Angehörigen zur Flucht nach Argentinien. Eine Entnazifizierung wie in Deutschland hatte er zu keiner Zeit zu befürchten. Politisch betätigte sich „Nico“ kaum mehr, engagierte sich hingegen bald in der Landwirtschaft, vor allem beim Bau von Bewässerungsanlagen.
In Buenos Aires gründete er das Unternehmen „Aspersion, Nicolussi & Cia“, aus deren Verkaufserlös an Mannesmann er später seine Villa in Hochfrangart in der Nähe von Bozen erwerben konnte. In seiner Firma tauchten auch flüchtige NS-Täter unter, so etwa SS-Brigadeführer Hans Fischböck. Ein enger Geschäftspartner von Leck war Horst Carlos Fuldner, einer der wichtigsten Fluchthelfer in Diensten des argentinischen Diktators Juan Perón.
Aus dem fanatischen Nazi wird ein Geschäftsmann mit alten Seilschaften
Anfang der 1950er Jahre kehrte Nicolussi-Leck wieder nach Südtirol zurück. Mithilfe von Mannesmann gründete er erfolgreich Firmen für landwirtschaftliche Maschinen und Beregnungsanlagen für den Obstanbau. Bei Nicolussi-Leck liefen bald viele Verbindungen aus Spanien, Italien, Deutschland und Argentinien zusammen.
Seine engsten Geschäftspartner waren meist alte Kameraden aus der NS-Bewegung oder der SS, beispielsweise der bekennende Altnazi Paul Maria Hafner, dem er eine Stelle bei Mannesmann in Spanien verschaffte. Diese alten Seilschaften aus Weltanschauung, Freundschaften und Geschäftsinteressen funktionierten ungestört.
Daneben widmete sich Leck seiner Leidenschaft, der Kunst. Im Laufe vieler Jahre hat Nicolussi-Leck seine Villa in Hochfrangart und den zugehörigen Weinberg mit moderner Kunst ausgestaltet. Über den „Meister im Zaubergarten“ berichtete der „Stern“ 2007, ein Jahr vor seinem Tod, ohne auf die SS-Vergangenheit auch nur mit einem Wort einzugehen. Nicolussi-Leck gehörte zu den Gründern des „Südtiroler Bildungszentrums“ (1971), des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst „Museion“ (1985) und des universitären Ausbildungszentrums für Gesundheitsberufe „Claudiana“, alle in Bozen. Zahlreiche Ehrerbietungen waren der Widerhall auf seinen Tod im Jahr 2008 im Alter von 91 Jahren.
Einer der SS-Täter führte in Versmold ein langes, ungestörtes Leben

Kehren wir zurück nach Versmold, genauer gesagt nach Oesterweg. In der Mühle Berkenkamp machte sich einer der Männer des oben beschriebenen SS-Panzerregiments – Hans Fischer – als Landmaschinentechniker selbstständig, nachdem er 1948 die Tochter und ehemalige BdM-Führerin Waltraud Berkenkamp geheiratet hatte.
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Politischer Ungeist, als Kameradschaft getarnt, überdauerte die Zeit bis zu diesem Nachruf auf seinen Tod: „Hans Fischer, ehemaliger SS-Oberscharführer und Zugführer der 2. Kompanie, SS-Pz.Rgt. 5 Wiking’, verstarb am 11. Juli 2005 nach kurzer Krankheit in seinem Haus in Norddeutschland [gemeint ist Versmold, Berliner Straße 17a]. Er wurde 1922 geboren und war einer der ersten Freiwilligen des ersten Panzerbataillons der Waffen-SS [ ]. Als Veteran der Ostfront wurde er für seine bewiesene Führungsstärke im Kampf mit dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet und erhielt für 75 Einsätze das Panzerkampfabzeichen. Er wird uns fehlen.“
„Nico“ hätte diesen Nachruf verfassen können, denn nun fehlte ein regelmäßiger Urlaubsgast mitsamt seiner Familie bei ihm und seinem Wein aus eigenem Anbau im schönen Südtirol.
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