Versmolder Unternehmen setzt auf Fleisch aus dem Labor

Bielefeld. Die Ernährung von immer mehr Menschen ist eine der größten Aufgaben der Zukunft. Durch Extremwetter ausgelöste Hungersnöte werden häufiger, die Zahl der unterernährten Menschen stieg zuletzt wieder an. Experten sagen deshalb dem Markt mit Lebensmitteln aus der zellulären Landwirtschaft, also der Produktion im Labor, besonders großes Wachstum voraus. Auch Unternehmer aus der Region positionieren sich deshalb schon jetzt. Fleisch aus dem Reagenzglas – ist das wirklich die Zukunft? Die technischen Voraussetzungen dafür seien geschaffen, sagt Wolfgang Kühnl. Der Lebensmitteltechnologe ist geschäftsführender Gesellschafter des Versmolder und Nortruper Unternehmens Infamiliy Foods Holding, das aus dem Zusammenschluss der westfälischen Privat-Fleischerei Reinert und dem Familienunternehmen Kemper Wurstwaren hervorging. Zunächst umfasste das Angebot der Holding nur tierische und pflanzliche Produkte. Mit einem dritten Standbein bietet Infamily Foods nun die Technologie für zelluläre Landwirtschaft und hat sich zum Ziel gemacht, Innovationsführer auf dem Markt zu sein. Für kultivierte Lebensmittel aus dem Labor braucht es drei Dinge: Stammzellen von Tieren. Medienbestandteile, also Zutaten wie Aminosäuren oder Zucker, die als Wachstumsfaktoren dienen. Und Bioreaktoren, in denen das Produkt heranreift. Die letzten beiden Produkte stellt Infamily Foods her. Hybridprodukte in Planung Schon jetzt ist so die Herstellung von Bratwürsten oder Fleisch für Burger möglich. "Bis zum ganzen Steak aus kultiviertem Fleisch ist es allerdings noch ein langer Weg", sagt Kühnl. Zunächst liege der Fokus in der Entwicklung auf sogenannten Hybridprodukten, beispielsweise vegetarischen oder veganen Produkten, die mit kultivierten Fleischprodukten ergänzt werden. Zugelassen sind diese Lebensmittel bisher jedoch nur in Singapur. In den USA und China werde eine Zulassung aktuell in Erwägung gezogen. "Europa gehört in der Branche nicht zu den sogenannten 'First Movern', obwohl auch die EU-Kommission schon angekündigt hat, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen", sagt Kühnl. Bisher befinde sich allerdings seines Wissens kein Produkt aus kultivierten Lebensmitteln in einem sogenannten Novel-Food-Verfahren, das für die Zulassung in Europa notwendig sei. Dass die Produkte zulassungsfähig wären, daran hat der Lebensmitteltechnologe aber keinen Zweifel. Transformation des Ernährungssystems Kühnl sieht in der zellulären Landwirtschaft eine Transformation des Ernährungssystems, die unausweichlich sei. Obwohl Wurst und Schinken weiterhin das wichtigste Standbein des Versmolder und Nortruper Unternehmens sein werden, müssen in den Augen des Lebensmitteltechnologen weitere Alternativen gefunden werden – schon im Sinne der Nachhaltigkeit. So könne mit der zellulären Landwirtschaft dem hohen Wasserverbrauch in der Fleischproduktion oder dem Verlust der Biodiversität entgegengesteuert werden. Doch es gibt auch Kritik an der Lebensmittelherstellung im Labor. Dass die Produkte bei Strömungen, die Natürlichkeit präferieren, auf Kritik stößt, sei laut Kühnl erwartbar. "Zwar sind die Lebensmittel aus dem Bioreaktor in der Zusammensetzung identisch zu konventionellen Lebensmitteln, jedoch sind sie technisch hergestellt." Landwirtschaft wird nicht obsolet Auch die herkömmliche Landwirtschaft beobachtet die zelluläre Landwirtschaft kritisch. Dass Lebensmittel aus dem Labor von heute auf morgen eine Alternative sein werden und die Nutztierhaltung überflüssig wird, kann sich Hubertus Behringmeier, Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Bezirksverbandes OWL, nicht vorstellen. Auch aus ethischer Sicht seien die tierischen Produkte aus dem Labor kritisch zu sehen, sagt er. Immerhin würden die benötigten Stammzellen von ungeborenen Tieren entnommen. "Wir lehnen die Entwicklung nicht vollständig ab, aber haben auch den Anspruch, für unsere Betriebe zu sorgen", ergänzt Behringmeier. Gerade in OWL sei die Nutztierhaltung das Rückgrat der Landwirtschaft. Dass die konventionelle Landwirtschaft durch die zelluläre Landwirtschaft irgendwann obsolet sei, glaubt Kühnl jedoch auch nicht. "Denn bei der Herstellung der Medien für die Produktion im Bioreaktor wird auch in Zukunft die Leistung und das Know-How der Landwirte gefragt sein." Und auch aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten sei die Tierhaltung weiter sinnvoll, um beispielsweise die Teile von Pflanzen zu verfüttern, die der Mensch nicht verzehren könne. Und ohnehin: "Es wird noch einige Zeit dauern, bis die Herstellungsmengen in der zellulären Landwirtschaft groß genug sind, um die Menschen damit zu versorgen", gibt Kühnl zu. Doch er ist sich sicher, dass die Technologie bei der Versorgung der Menschen in Zukunft unverzichtbar sein wird.

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