Zwischen Trotz und Triumph: Reaktionen auf den Rechtsruck im Altkreis Halle

Altkreis Halle. Dieser Wahlabend hat auch im Kreis Gütersloh zahlreiche politische Gewissheiten zerstört. Die AfD hat die SPD als zweitstärkste Partei bei den Zweitstimmen abgelöst, es gelang ihr, mancherorts echte Hochburgen zu bilden. Vor allem in Versmold und Borgholzhausen trumpft die in Teilen gesichert rechtsextreme Partei auf. Wie verändert dieser politische Klimawandel die Zivilgesellschaft vor Ort? Das &bdquo;Haller Kreisblatt“ hat sich auf Spurensuche begeben - und unterschiedlichste Emotionen zutage gefördert. Der selbstbewusste Sieger aus Steinhagen &bdquo;Unser Ergebnis ist besser als gedacht. Natürlich gibt uns das Auftrieb“, sagt Alexander Alt am Montag. Der Steinhagener ist Vorsitzender der AfD-Kreistagsfraktion. Darüber hinaus vertritt er die Alternative für Deutschland im Steinhagener Gemeinderat. Dort hatte sich 2020 der erste AfD-Gemeindeverband im Altkreis Halle gegründet; über seinen Listenplatz war Alexander Alt nach der Wahl in den Gemeinderat eingezogen. Geht es nach Alexander Alt, dann sollen bei der kommenden Kommunalwahl im September weitere Stadtparlamente erobert werden. Mit 18,3 Prozent Stimmenanteil im Kreis Gütersloh sehe sich seine Partei in diesem Vorhaben gestärkt. &bdquo;Unser Wunsch ist es, dass wir jetzt in eine Gründungsphase gehen und uns lokal breiter aufstellen“, sagt Alexander Alt. Der Wählerzuspruch in den einzelnen Kommunen spiele allerdings eher eine untergeordnete Rolle bei der Frage, in welchen Städten die AfD bei der Kommunalwahl antritt. &bdquo;Da geht es eher darum, wo sich unsere Mitglieder vor Ort engagieren möchten“, so der Kreis-Fraktionschef. Lesen Sie auch: Wahlergebnisse für Halle, Steinhagen, Versmold, Borgholzhausen und Werther &bdquo;Heiße Kandidaten“ für die Gründung von neuen AfD-Gemeindeverbänden sind im Altkreis Halle laut Alexander Alt Versmold und Borgholzhausen. Tatsächlich hat die AfD genau hier besonders viel Zustimmung erhalten. In Versmold kam sie auf 21,9 Prozent der Stimmen. In Borgholzhausen waren es 20,3 Prozent. Für den Südkreis nennt er Rietberg, Rheda-Wiedenbrück und Harsewinkel. Auch was die Mitgliederzahlen im Kreis Gütersloh angeht, spüre die AfD Zuspruch, berichtet der Steinhagener. &bdquo;Wir haben unsere Mitgliederzahl in den vergangenen Jahren auf jetzt 150 im Kreis Gütersloh verdoppelt. Ich gehe davon aus, dass wir in diesem Jahr die 200er-Marke knacken werden“, prophezeit Alexander Alt. Das Thema Migration, mit dem die AfD im Bundestagswahlkampf vor allem in Erscheinung getreten war, habe vor Ort an den Wahlkampfständen im Kreis Gütersloh keine besonders große Rolle gespielt“, berichtet der AfD-Fraktionschef. &bdquo;Den Menschen machen die steigenden Lebenshaltungskosten Angst. Die fürchten um ihren Lebensstandard.“ Der desillusionierte Liberale aus Borgholzhausen &bdquo;Ich war gestern zwei Mal geschockt“, sagt Hermann Ludewig dem &bdquo;Haller Kreisblatt“. &bdquo;Einmal darüber, dass meine FDP die Fünf-Prozent-Hürde nicht geschafft hat. Und dann über 20,3 Prozent für die AfD in meiner Heimatstadt Borgholzhausen.“ Ludewig engagiert sich vielfältig in der Stadt und für die Liberalen, war auch stellvertretender Bürgermeister. &bdquo;Die Migration brennt den Menschen offenkundig unter den Nägeln, sonst wäre die AfD nicht einmal zweistellig“, sagt Ludewig. Die etablierten Parteien hätten es versäumt, das zu adressieren. &bdquo;Die Menschen in Borgholzhausen sagen mir: Du hörst ja hier nur noch ausländische Stimmen. Das ist genau so wenig richtig wie dass für ’die Ausländer’ und Bürgergeld-Empfänger mehr gemacht werde. Aber trotzdem denken viele, dass ihnen alle Sorgen abgenommen werden, wenn sie die AfD wählen.“ Darauf, dass diese Partei rechts ist, kämen viele dabei gar nicht. &bdquo;Noch vor zwei Monaten“, so bekennt Ludewig, &bdquo;habe ich gedacht, dass es niemals eine AfD im Borgholzhausener Stadtrat geben wird.“ Jetzt sei er sich da nicht mehr so sicher. &bdquo;Die Maske ist gefallen und die Partei wird gesellschaftsfähig“, sagt der 74-Jährige, der im Bezirksvorstand der FDP sitzt, für den Rat im September aber nicht mehr kandidieren wird. Grundsätzlich habe man im Stadtparlament Konsens trotz inhaltlicher Auseinandersetzungen - &bdquo;so stelle ich mir Demokratie vor, mit Wertschätzung statt Häme“. Der warnende Sozialdemokrat aus Düsseldorf Der heimische SPD-Landtagsabgeordnete Thorsten Klute aus Versmold mag nichts beschönigen: &bdquo;Wir haben die Arbeiter und Geringverdiener an die AfD verloren. Und das, obwohl gerade die unter dem AfD-Programm am meisten leiden würden.“ Da eben jene Bevölkerungsgruppe im Kreis Gütersloh eben größer sei als etwa im Sauer- oder Münsterland, feiere die AfD hier auch größere Erfolge. Die Rechten seien vor Ort allerdings kaum präsent, das habe Methode. &bdquo;An der Wahrheit orientierte Informationen gehen immer mehr verloren“, kritisiert Klute. &bdquo;Ich kriege in den persönlichen Gesprächen in Versmold dann eine gefühlte Unzufriedenheit mit. Manche kann ich als ’Einer von denen’ dann gar nicht mehr erreichen, andere bringe ich zumindest zum Grübeln.“ Klute will in den nächsten Monaten &bdquo;gezielt in die Betriebsräte und die Arbeiterschaft gehen“, um die Vorzüge sozialdemokratischer Politik zu erklären. Der Versmolder Bürgermeister aus der AfD-Hochburg &bdquo;Das hatte ich so nicht erwartet“, sagt Versmolds Bürgermeister Michael Meyer-Hermann (CDU) über 21,9 Prozent der Zweitstimmen für die AfD in seiner Stadt. Das ist das zweitstärkste Ergebnis für die Rechten im Kreis nach Harsewinkel. In manchen Versmolder Wahllokalen (ohne Briefwahl) lag die AfD zehn Prozentpunkte vor der CDU. &bdquo;Wir sehen in diesen Tagen, dass nur zu demonstrieren und Kerzen anzuzünden nicht reicht. Es macht schon nachdenklich, wie groß das Potenzial der Partei auch bei uns ist.“ Migration und die Leistungen für Bürgergeldempfänger seien in Versmold ein Thema, das Frust schüre. &bdquo;Nach dem Motto: Die bekommen alles bezahlt, und Rentner müssen sehen, wo sie bleiben, wird mir in Gesprächen gespiegelt“, berichtet Meyer-Hermann. Dass die AfD nun den Versmolder Stadtrat erobert, hält der Christdemokrat aber keinesfalls für ausgemacht: &bdquo;Seine Stimme bei der Bundestagswahl zu geben ist etwas anderes, als mit Name und Gesicht in seinem Wahlbezirk für die AfD anzutreten.“ Lesen Sie auch: Liveticker zur Bundestagswahl: So hat der Altkreis Halle gewählt Eigener Frust über den AfD-Triumph trotz einer solide funktionierenden Stadt sei übrigens wenig hilfreich: &bdquo;Dann hätten wir den falschen Job. Ich habe den Glauben an die vernünftige Mehrheit noch nicht verloren.“ Es gehe nun darum, vor Ort gute Politik zu machen, um die Menschen zu überzeugen. Doch Meyer-Hermann sieht ein Problem: &bdquo;Gerade junge Menschen informieren sich fast nur noch über Social Media.“ Der besorgte Vereinsfunktionär aus Halle Mit etwa 1.200 Mitgliedern gehört der SC Halle zu den größten Vereinen im Verbreitungsgebiet. Und bildet zugleich einen Querschnitt durch die gesamte Gesellschaft; alle Themen dieser Zeit werden hier gespiegelt. Vorsitzender Wolfgang Rehschuh hat einen feinen Blick darauf und erklärt die Aufgaben und ebenso die Herausforderung an dieser Stelle so: &bdquo;Wir bieten allen Menschen eine sportliche Heimat, wir sind offen für alle.“ Mit Blick auf die Integrationsarbeit, die in einem Sportverein dieser Größenordnung auch geleistet wird, fügt er an: &bdquo;Wir würden gerne noch mehr davon übernehmen - stoßen dabei aber auch an unsere Grenzen. Das können trotz der traumhaften Bedingungen mit zwei Kunstrasenplätzen und den vorhandenen Sporthallen mal Kapazitätsprobleme sein, mal personelle Herausforderungen.“ Ein Beispiel, das Rehschuh nennt: &bdquo;Ein Trainer betreut in seiner Freizeit ein Team mit 15 jugendlichen Fußballspielern. Und plötzlich kommen fünf, sechs neue hinzu, die allesamt unterschiedliche Sprachen sprechen.“ Die Tatsache selbst, so betont der Vereinsvorsitzende ausdrücklich, sei überhaupt nicht das Problem - damit umzugehen indes schon. &bdquo;Hier wünschten wir uns allgemein eine bessere Integrationsarbeit, für die aber eben auch außerhalb des Vereins Sorge getragen wird.“ Einen Eindruck davon, wie er die Stimmung wahrnimmt, vermittelt er ebenso: &bdquo;Bei mir kommt immer wieder an, dass es viele Deutsche gibt, die sich benachteiligt fühlen. Die - ob nun berechtigt oder nicht - der Ansicht sind, dass Flüchtlingen mehr finanzielle oder materielle Unterstützung und Versorgung zukommen als ihnen selbst.“ Hier müssten wir, alle gemeinsam, an einer Lösung arbeiten. &bdquo;Ich bin durch und durch Demokrat und wünsche mir, dass wir diese Menschen abholen.“ Der zuversichtliche Stratege aus Werther Die Nacht nach einem spannenden wie nervenaufreibenden Wahlabend sei nur kurz gewesen. Aber Werthers Bürgermeister Veith Lemmen zeigte sich am Montag zumindest aus persönlicher Sicht zufrieden: Schließlich hatte seine Frau Wiebke Esdar im Wahlkreis 131 erneut das Direktmandat erobert. Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Katharina Kotulla von der CDU konnte sich die Sozialdemokratin am Ende durchsetzen - und bleibt somit auch weiterhin Bundestagsabgeordnete für die SPD. &bdquo;Um 7 Uhr ist Wiebke also schon wieder nach Berlin gefahren“, berichtete Lemmen, &bdquo;dort ging es ja direkt weiter“. Mit einem anderen Blick schaut der Vorsitzende der SPD in OWL auf die Ergebnisse seiner Partei auf Bundesebene: &bdquo;Das ist eine verheerende Niederlage. Punkt.“ Grund für Optimismus kann er trotzdem haben. In Werther hat die AfD zwar auch zugelegt, liegt mit 12,98 Prozent Stimmenanteil allerdings noch deutlich unter dem Ergebnis auf Bundesebene (20,80) - und auch deutlich hinter den anderen Kommunen im Altkreis Halle. &bdquo;All das, was wir ohnehin schon unternehmen und initiieren, werden wir weiter ausbauen“, erklärt Lemmen. Und nennt die gut funktionierenden Abendmärkte, den Christkindlmarkt oder Veranstaltungen für Menschen im Ehrenamt als positive Beiträge zur Unterstützung einer solidarischen Stadtgesellschaft. &bdquo;Allesamt Veranstaltungen, bei denen man von Angesicht zu Angesicht Meinungen austauschen kann - das ist enorm wichtig“, fährt der Bürgermeister fort. &bdquo;Hier mag auch nicht alles perfekt sein, und es gibt nicht nur eine Meinung. Aber so viel steht fest: Bei uns werden die Menschen mit all ihren Themen, Sorgen und Problemen ernstgenommen.“ Die fassungslose Frau der Kultur Ulrike Poetter aus Versmold engagiert sich schon seit Jahrzehnten für Politik und Kultur in Versmold und im gesamten Kreis Gütersloh. Am Montag bekennt die 81-jährige Bundesverdienstkreuz-Trägerin: &bdquo;Das trifft mich wie ein Schlag.“ Sie sei 1970 in die Kommunalpolitik gegangen, weil die NPD in den Loxtener Gemeinderat eingezogen war. &bdquo;Erst habe ich das Ergebnis angefochten - und als das im Sande verlief, bin ich selbst zur FDP gegangen.“ Eine demokratische Entscheidung sei der Erfolg der Nazi-Nachfolger gewesen, habe es damals geheißen: &bdquo;Und jetzt geht es mit der braunen Suppe wieder los.“ Bezeichnenderweise stehe 55 Jahre nach ihrem Einstieg erneut eine Kommunalwahl an. &bdquo;Viele halten das ja noch unter dem Deckel“, sagt Poetter. &bdquo;Man wählt die AfD und spricht nicht drüber. Aber das ändert sich gerade.“ Die Menschen ließen sich nicht durch Argumente überzeugen, sondern durch Stimmungen. &bdquo;Aber wenn sich die jungen Menschen nur noch über Tiktok und Co. informieren - wie kriegen wir die sachlichen Fakten zu ihnen?“ Auch wenn es ihr schwerfällt, hat Poetter doch ein Rezept parat: &bdquo;Wir müssen zuhören.“

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