„Ich habe mich geschämt“ - Hallerinnen erzählen über das Leben in Armut

Halle. Draußen Frost, Wind, Regen ... Drinnen muckelige 20 Grad. Und bei manchen Frostbeulen vielleicht etwas mehr. Eine 58-jährige Hallerin kann von solchen Temperaturen in der eigenen Wohnung nur träumen. Obwohl die schmale Frau der Kälte wenig entgegensetzen kann, würde sie den Thermostat auf keinen Fall so hochdrehen: &bdquo;Ich heize auf 16,5 Grad und nur vier Stunden am Tag - und das auch nur in einem Raum.“ Alles andere sei ihr zu viel vom Verbrauch. &bdquo;Dann sitze ich halt da mit Decke und Pullover - und kalter Nase.“ Hinter ihre Heizung hat sie Dämmfolie aus dem Discounter geklebt - für 4,99 Euro - eine außerplanmäßige Ausgabe, die sie sich gut überlegt hat. Die 58-Jährige (wir kürzen ihren Namen nachfolgend mit L. ab) ist nicht freiwillig zum Sparfuchs geworden. L. ist arm. &bdquo;Und da ich nie wieder gesund werde, werde ich auch nie wieder arbeiten gehen. Also muss ich damit leben“, sagt die Frührentnerin. Sie hat dem &bdquo;Haller Kreisblatt“ erzählt, wie sich in ihrem Leben alles um das knappe Geld dreht. &bdquo;Das ist automatisch der Schwerpunkt. Wenn irgendwas kaputt geht, dann zerbricht man sich den Kopf.“ Luxusartikel sind tabu. An kostenpflichtige Gesundheitsvorsorge ist für die Chronischkranke nicht zu denken. Ein Auto hat sie zwar, aber jede Fahrt muss gut überlegt sein, damit das streng eingeplante Spritgeld reicht: &bdquo;Ich tanke nur einmal im Monat für 20 Euro.“ Das hätte sie sich in ihrem früheren Leben nicht vorstellen können. Als Vollzeitangestellte im öffentlichen Dienst habe sie zwar nicht unfassbar viel verdient, &bdquo;aber ich wäre mit dem Gehalt im Leben zurechtgekommen“. Doch dann kam alles anders: Kündigung, Krankheit ... &bdquo;Als ich in Hartz IV kam, hab ich gemerkt, was Armut wirklich heißt. Als es für mich finanziell so radikal runterging, wusste ich nicht mehr, wo oben und unten ist.“ &bdquo;Ich muss um Essen betteln“ - Hallerin verzweifelt, als sie Hartz IV empfängt Damals erfuhr sie das erste Mal von der Tafel. Die deutschlandweite Hilfsorganisation hat auch in Halle einen Standpunkt, der seit fast 24 Jahren von Marie-Luise Bornemann-Kulina geleitet wird. Aktuell packen rund 20 Freiwillige regelmäßig mit an, um gespendete Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen. Davon profitieren allein in Halle etwa 230 Personen - fast die Hälfte davon sind Kinder. Die Gründe dafür sind vielfältig. Manche Menschen sind durch Scheidung oder Verlust des Arbeitsplatzes in Schieflage geraten, berichtet die Team-Leiterin. Andere sind Flüchtlinge, Obdachlose, Erkrankte ... L. wusste damals gar nicht, dass es eine solche Einrichtung gibt. Als man ihr im Jobcenter erklärte, dass sie Anspruch darauf hat, war ihr erster Gedanke: &bdquo;Um Gottes Willen - soweit bin ich jetzt schon. Ich muss jetzt anstehen und um Essen betteln.“ Zuerst habe sie sich nicht dahin getraut: &bdquo;Ich habe mich so geschämt.“ Heute ist das anders: &bdquo;Es fühlt sich an, als käme man nach Hause. Die Tafel ist wie eine Familie. Man fühlt sich nicht mehr als Mensch zweiter Klasse, sondern auf Augenhöhe“, schwärmt sie. Sie habe eine Weile gebraucht, um zu realisieren, dass sie für die Ehrenamtlichen nicht weniger wert ist: &bdquo;Obwohl da so viele Gesichter sind, wird man auch mit Namen angesprochen. Ich bin dort jemand, und ich werde gehört.“ Armut grenzt aus dem gesellschaftlichen Leben aus Bei ihren wöchentlichen Besuchen erfahre sie dort mehr Menschlichkeit als in ihrem Berufsleben: &bdquo;Diese Erfahrung hat mich erst fertiggemacht, weil ich das überhaupt nicht kannte. Aber dann kam es richtig bei mir an und das war herrlich. Seitdem fühle ich mich aufgefangen.“ Kein Wunder, dass die Tafel zu den Highlights ihrer Woche gehört. Freizeitaktivitäten, die für viele normal sind - Essen gehen, Kino, Sportverein - sind für die 58-Jährige unerschwinglich. Etwas, was die Tafel-Kunden vereint, berichtet auch Marie-Luise Bornemann-Kulina: &bdquo;Durch Armut verliert man die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.“ Die Tafel sei deshalb für viele mehr als ein Ort, um Essen zu holen, erläutert L.: &bdquo;Ich bin dort nicht alleine. Egal, ob man vorher Chefmanager war und plötzlich ganz unten ist, oder eine Putzfrau mit fünf Kindern, die ihren Job verloren hat. Dort sind alle gleich.“ Das Schicksal vereint - und führt zu neuen Freundschaften. Die Hallerin hat dort auch C. kennengelernt. Sie holt für ihren Sohn bei der Tafel Lebensmittel ab und fühle sich dort lieb aufgenommen: &bdquo;Obwohl alle Helfer viel zu tun haben, haben sie immer ein Lächeln auf den Lippen und Zeit für Gespräche. Das ist bewundernswert.“ Haller Mutter unterstützt ihren Sohn Auch die Organisation sei beeindruckend: Da alle Lebensmittel im Vorfeld schon für die Tafel-Kunden aufgeteilt werden, gibt es keine Warteschlangen und keinen stressigen Kampf um Lebensmittel. &bdquo;Niemand geht leer aus“, sagt C. Und es sei spannend, welche Leckereien bereitlägen. &bdquo;Sohnemann freut sich auch immer.“ Doch selbst geht er nicht zur Hilfsorganisation: &bdquo;Er spricht da nicht gerne drüber, dass er Sachen von der Tafel kriegt - aber er nimmt es dankbar an. Was er nicht so mag, das teilen wir uns. Weg kommt da nichts.“ Dass in seinem Umfeld alle Geld verdienen und sich mehr leisten können, nagt an ihm, berichtet seine Mutter. Wenn die 67-Jährige zur Tafel fährt, hieße es offiziell: &bdquo;Mutter geht einkaufen“. Sie mache das gerne für ihren Sohn, der wie L. nicht arbeiten kann. &bdquo;Er weiß, dass er keine großen Sprünge machen kann. Wir führen darüber viele Gespräche, und ich sage ihm dann, es muss solche und solche auf dieser Welt geben.“ Auch die chronisch kranke L. musste viel reflektieren - zum Teil auch therapeutisch begleitet. &bdquo;Früher habe ich mich sehr geschämt. In einem Alter zu sein, in dem andere arbeiten und Einkommen haben - aber ich nicht. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben - obwohl ich ja krank geworden bin und gar nichts dafür kann.“ Dennoch - der Gedanke, aufgrund der Armut weniger wert zu sein, bleibe ein Thema für sie.

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