Was heißt Barrierefreiheit? Ärger um Halles neues Stadtviertel geht weiter

Halle. Die Themen auf der Tagesordnung des Stadtrates wurden bereits in den vorherigen Ausschüssen diskutiert, es gilt zumeist nur noch, diese Beschlüsse offiziell zu bestätigen. Mitunter eine Sache von Minuten. Die Sitzung am Mittwoch stellte jedoch eine Ausnahme dar, schließlich dauerte sie gut 150 Minuten - und das in erster Linie wegen eines einzelnen Tagesordnungspunktes. &bdquo;Der Rat ist kein Abwinkgremium, wir können hier auch diskutieren“, sagte Bürgermeister Thomas Tappe - und so kam es dann auch. Zwölf Tagesordnungspunkte waren nach gut 15 Minuten abgehakt, dann kam der 13. Punkt, bei dem UWG-Fraktionssprecherin Anja Pohlmann die Verwaltung attackierte. &bdquo;Wir tun uns schwer mit dem Beschluss“, sagte Pohlmann. Gemeint waren die städtebaulichen Vorgaben für die Vermarktung der Grundstücke im Neubaugebiet Masch. Ihre Fraktion verstehe nicht, warum man Investoren einen Bonus gewähre, wenn diese barrierefrei bauen. &bdquo;Barrierefreies Bauen ist eigentlich gesetzlich festgelegt“, sagte Pohlmann und zitierte aus einem Text, den sie auf ihrem Handy gespeichert hatte. &bdquo;Es ist gesetzlich vorgeschrieben, da sehe ich dann keinen Sinn drin.“ Wie viele Fahrräder hat eine Familie? Bürgermeister Thomas Tappe erwiderte: &bdquo;Mein Stand ist, dass Barrierefreiheit nicht zwingend vorgeschrieben ist.“ Belegen konnte er dies jedoch nicht, und auch die Kollegen aus der Stadtverwaltung konnten der UWG-Sprecherin vorerst kein Gegenargument liefern. Ähnliche Meinungsverschiedenheiten gab es hinsichtlich der Stellplätze für Fahrräder. Einig war man sich darin, dass diese ebenerdig und überdacht sein sollen. Die Idee der Stadt, 1,5 Stellplätze pro Wohneinheit vorzuschreiben, kam jedoch nicht an. &bdquo;1,5 Stellplätze sind nicht zukunftsweisend“, sagte Frank Winter (Grüne). Das fördere kein Umdenken in Richtung Rad. &bdquo;Eine Familie mit zwei Kindern hat schon vier Fahrräder, die möchten sie bestimmt nicht jedes Mal in den Keller tragen“, ergänzte Winter. &bdquo;Wir haben noch einmal ein bisschen gegoogelt“, meldete sich Pohlmann erneut zu Wort. &bdquo;Seit 2015 sind zwei Plätze gesetzlich vorgeschrieben, da kann man nicht bei 1,5 von ausreichend sprechen.“ &bdquo;Googeln finde ich gefährlich“, erwiderte Tappe. &bdquo;Wir müssen das noch einmal komplett neu beraten“, riet Michael Koch (UWG) angesichts des sich ausbreitenden Gesetzesdschungels. &bdquo;Ich denke nicht, sehe aber die Notwendigkeit der Beratung. Dies können wir aber innerhalb des Rates machen“, erwiderte Tappe. Viertelstunde für die spontane Beratung &bdquo;Eine Sitzungsunterbrechung wäre gut, damit jede Fraktion noch einmal beraten kann“, schlug SPD-Fraktionsvorsitzende Edda Sommer vor. Dazu kam es dann auch. &bdquo;Es ist eine komplizierte Geschichte. Barrierefreiheit ist ein schwammiger Begriff. Wie müssten vorher wohl festlegen, was für uns Barrierefreiheit heißt“, sagte Sommer nach Wiederaufnahme der Sitzung zum ersten diskutierten Punkt. Sie plädierte daher dafür, das barrierefreie Bauen weiterhin mit einem Bonus zu versehen. &bdquo;Wir sind dann wohl in einem Bereich, der über das Mindestmaß hinausgeht. Insofern ergibt diese Formulierung Sinn“, sagte sie mit Blick auf die Beschlussvorlage. Die Mehrheit entschied sich dafür, lediglich die vier Vertreterinnen und Vertreter der UWG lehnten einen Bonus für Barrierefreiheit ab. In Sachen Fahrradständer entschieden die Ratsmitglieder mehrheitlich, dass wohl zwei vorgeschrieben seien und man sich daran orientieren wolle. Zudem sollen diese ebenerdig und überdacht sein. &bdquo;Wenn wir barrierefrei bauen, werden wir in den Häusern auch einen Aufzug haben. Dann kann man die Fahrräder auch problemlos in den Keller bringen“, sagte Edda Sommer und erklärte somit, warum aus ihrer Sicht zwei Außenplätze ausreichend seien. Harald Stützlein (FDP) schloss sich an und lieferte ein weiteres Argument: &bdquo;Ich kann mir nicht vorstellen, dass hochwertige Elektroräder draußen abgestellt werden, die kommen eh in den Keller. Es reichen also zwei Plätze am Haus pro Wohneinheit aus.“ Ist der Holzbau wirklich teurer? Wolfgang Schulz (CDU) forderte zudem, für die Holzrahmenbauweise keine Bonuspunkte im Vergabeverfahren zu verteilen. &bdquo;Wir haben doch als gemeinsames Ziel die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum. Die Holzständerbauweise ist aber insbesondere bei Mehrfamilienhäusern teurer. Darum lehnen wir das ab. Dies würde nur zu hören Mieten führen.“ Dem entgegnete der Gründen-Fraktionssprecher Jochen Stoppenbrink: &bdquo;Dass die Kosten höher sind, ist eine Behauptung. Das ist nicht zu beweisen.“ Am Ende entschied man sich mehrheitlich dafür, der Holzrahmenbauweise einen Bonus zu gewähren. &bdquo;Es ist ja nur eine Möglichkeit. Es ist nichts, was wir vorschreiben. Die Grundschule Gartnisch hat sich doch als vorzeigefähiges Objekt der Holzrahmenbauweise erwiesen“, sagte Anja Pohlmann. Kämmerer Björn Hüllbrock erläuterte zudem auf Wunsch noch einmal die angepeilten Preise von 175 Euro pro Quadratmeter bei den Mehrfamilienhäusern und 210 Euro pro Quadratmeter bei den Reihenhäusern. &bdquo;Das sind Mindestpreise. Eine Angebotsuntergrenze, nicht der erwartete Verkaufserlös. Wir würden jedoch Angebote akzeptieren, die unterhalb des Bodenrichtwerts liegen. Schließlich ist der Baumarkt stark angeschlagen, und wir wollen kein finanzielles Fiasko erleben.“ Stadt will mehr als sechs Millionen Euro einnehmen Bauamtsleiter Manfred Bonensteffen erklärte, dass man für das Baugebiet mit Verkaufserlösen in Höhe von 6,14 Millionen Euro rechne. Die Erschließungskosten liegen darunter, sodass diese dadurch auf jeden Fall gedeckt werden. Festgesetzt wurde zudem eine Bauverpflichtung innerhalb von drei Jahren. Wird das Objekt jedoch mittels einer Förderung finanziert, so beginnt die Frist ab dem Zuschlag der Förderung, spätestens aber nach fünf Jahren. Breite Zustimmung fand der Vorschlag, das nördlichste, direkt unterhalb des zukünftigen Aldi liegende Gebäude, für kombiniertes Wohnen von Menschen mit und ohne Behinderung vorzusehen. Dennoch ebbte auch am Ende des Tagesordnungspunktes die Kritik nicht komplett ab. &bdquo;Die Vorlage war schlecht. Wir müssen hier diskutieren, was Barrierefreiheit bedeutet und wie viele Fahrradständer vorgeschrieben sind. So etwas sollte vorher klar sein“, sagte Pohlmann. Bei solch einer komplexen Aufgabe müsse die Sache anders vorbereitet sein.

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