Der Wochenkommentar

Missstände und Kriminalität - der Altkreis Halle lebt nicht im Paradies

In den vergangenen Wochen und Monaten haben sich in der Region Dinge ereignet, die man gemeinhin von sich wegschiebt. „Hier doch nicht!“, heißt es dann. Das ist falsch. Was daraus für uns folgt.

Von kalter Professionalität und Skrupellosigkeit zeugt die höchst effizient eingerichtete illegale Tabakfabrik in Werther. | © Anja Hanneforth

Marc Uthmann
14.09.2024 | 14.09.2024, 09:08

Der große Skandal, das schlimme Verbrechen, unfassbare Taten aus Habgier und Skrupellosigkeit. In einer heilen Welt kommen solche Dinge nicht vor. Und als solche definieren wir Menschen aus dem Altkreis Halle unsere fünf kleinen Orte ja gern. Das Böse, das Verbotene spielt sich doch in Metropolen ab: Frankfurt, Hamburg, Berlin. Und klar, allein aufgrund der Größe dieser Städte ereignen sich dort auch viel mehr Verbrechen. Aber mit Blick auf die vergangenen Monate und Jahre bleibt festzuhalten: Im Altkreis leben deshalb nicht die besseren Menschen. Und gerade der jüngste Fall wirft Fragen auf.

Nicht bei uns, nicht mit uns - das gilt nicht und hat noch nie gegolten. Ganz unabhängig von den drei Tötungsdelikten im Altkreis Halle in den vergangenen Jahren - zuletzt der Fall Marion S. - ist in der Region durchaus eine Menge krimineller Energie vorhanden. Hinzu kommen die tödlichen Tritte gegen einen Haller nach einer Weihnachtsfeier in Steinhagen Ende 2022. Wie gehen wir mit solchen Fällen um?

Weitab von körperlicher Gewalt hat die illegal errichtete Reitanlage in Werther zumindest einmal das Potenzial zu einem handfesten Skandal. Und schon hier läuft längst die Debatte: Hätten die Behörden das nicht früher erkennen müssen? Es werden Schuldige abseits der beauftragenden Unternehmerin gesucht. Ich habe hier schon einmal formuliert, dass es mir zu einfach ist, den schwarzen Peter in diesem Fall den Behörden zuzuschieben. Wer angesichts der Vorgänge schon vorher misstrauisch war, hätte reagieren und auf Missstände aufmerksam machen können.

Junger Zeuge wird schwer verprügelt

Vor kurzem hat ein junger Mann die Initiative ergriffen, weil er Verdächtiges beobachtet hatte - und wurde dafür schwer verprügelt, unter anderem mit einer Brechstange. Also gilt wie im Fall der tödlichen Tritte in Steinhagen: Zivilcourage ist gefährlich? Sicher nicht, allerdings hätte der Zeuge in diesem Fall die Polizei rufen können. Dass er sich interessiert hat, dass er einem Unrecht auf den Grund gehen wollte, war zunächst einmal völlig richtig.

Denn wenn man betrachtet, was meine Kollegin Anja Hanneforth in den vergangenen Tagen herausgefunden hat, erscheinen die gesamten Vorgänge rund um das frühere Oro-Druck-Gebäude im Wertheraner Dörfchen Häger noch unfassbarer. Mit kalter Professionalität hat eine Bande dort eine illegale Fabrik eingerichtet. Akribisch darauf bedacht, keine Geräusche und keine Vorgänge nach außen dringen zu lassen. Zugleich gingen die Gangster in ihrem Profitstreben maximal effizient vor.

Es entsetzt, mit welcher Menschenverachtung agiert wurde. Denn es waren sicher nicht die Bosse, die hier bei drückender Wärme ohne Licht und auf engem Raum gehaust haben. Sondern angeheuerte Handlanger, die offenbar keine andere Alternative gesehen haben, als sich skrupellos ausbeuten zu lassen. Diese Zigaretten waren übrigens offenbar für den englischen Markt gedacht - und irgendwo anders auf der Welt werden gerade welche gedreht, für die es bei uns Käufer gibt. Willkommen im kriminellen Kapitalismus.

Gangster wollen andere Gangster bestehlen

Dass dann womöglich andere Gangster kamen, um diese Bande zu bestehlen und dabei schlimme Gewalt gegen den jungen Zeugen ausübten, setzt dem Ganzen die Krone auf. Man wähnt sich wirklich im falschen Film. Und wie häufig in solchen Fällen sickert dann nach und nach durch, dass den Menschen im Umfeld schon länger Dinge seltsam, ja gar verdächtig vorkamen. Ungewöhnliche Geräusche zu ungewöhnlichen Zeiten, seltsame Tätigkeiten. Bescheid gegeben hat allerdings niemand. Und das in unserer heilen Welt, wo die Menschen noch eng zusammenstehen und aufeinander aufpassen? Vielleicht ist uns ein wenig von diesem Gemeinsinn abhandengekommen, weil wir in Zeiten von Aufgabendruck und einem sich gefühlt ständig beschleunigenden Alltag zu sehr mit uns selbst beschäftigt sind.

Das Schlimmste kann aber doch bei uns nicht passieren. Weil unser moralischer Kompass stimmt, weil wir gefestigte Strukturen haben. Wirklich? Was mich neben den Vorfällen rund um Oro-Druck in dieser Woche noch entsetzt hat, sind die Einblicke in die Verbrechen zur NS-Zeit in Versmold, die Historiker Richard Sautmann mit seinem neuen Buch liefert: Einst aufrechte Bürger plündern da schutzlose jüdische Mitbürger aus uns schicken sie mitleidlos in den Tod. Und zwar aus Gier.

Wie schnell Gesellschaften verrohen können, haben die zwölf dunklen Jahre auch im Altkreis Halle gezeigt. Wir sollten uns darum alle gemeinsam bemühen, unsere Gemeinschaft zu stärken und dem Bösen die Stirn zu bieten. Ohne dabei unser Leben zu riskieren, natürlich. Wer Unrecht beobachtet, sollte Hilfe holen - denn darauf darf man bei uns immer noch hoffen.