Lost Place: Ein fast vergessener jüdischer Friedhof in der Stadt Halle

Halle. Mancher, der den Weg schon hunderte Male nutzte und nicht weiß, was sich hier verbirgt - hinter einer alten, meterhohen Hainbuchenhecke liegt an der Haller Moltkestraße der jüdische Friedhof der Stadt. Kein Hinweisschild weist auf den geschichtsträchtigen Ort hin. Das Tor ist ständig verschlossen. Wer hinein will, muss sich am Rathaus den Schlüssel holen. 46 Grabmale stehen auf dem lang gezogenen Gräberfeld, vor 1945 müssen es deutlich mehr gewesen sein, sagen die Historiker, die sich mit dem Ort beschäftigt haben. "Früher war er wohl drei Mal so groß wie heute", vermutet Martin Wiegand. Der Historiker des Museums "Haller Zeiträume" hat vor mehreren Jahren zum Friedhof geforscht, mit letzten Zeitzeugen gesprochen, die bekannten Fakten gesammelt und alles aufgeschrieben, damit nicht noch mehr vergessen wird. "Die Lesbarkeit wird ja immer schlechter", sagt er angesichts der alten, bröckelnden Steine. In den 1940er Jahren wurden Teile des Friedhofes eingeebnet, weiß der Forscher. Der "Kirchhoff" der Haller Juden "1940 erwarb der benachbarte Maurer Köhne das Grundstück für 600 Reichsmark", erklärt Wiegands Kollege Wolfgang Kosubek. Damals hatte man den letzten verbliebenen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Halle, den Schlachter Moritz Isenberg, gezwungen, den Friedhof zu veräußern. Isenberg starb zwei Jahre später im Warschauer Ghetto. Es wahr wohl der neue Besitzer, der die Parzelle dann mit Gewalt verkleinerte. "Ich vermute, dass im Boden der Wiese nebenan noch alte Gräber liegen", sagt Martin Wiegand beim kleinen Pressetermin auf dem Gräberfeld. Die eigentliche Größe des Friedhofes - 2.200 Quadratmeter - geht aus alten Stadtplänen hervor. Nicht gesichert ist indes das Alter des Friedhofes. Er könnte bereits im 17. Jahrhundert angelegt worden sein. Damals lebten nachweislich schon Juden in der Lindenstadt. Den ältesten gesicherten Hinweis, den die Haller Historiker haben, liefert die Stadtkarte von 1824, auf der der "Kirchhoff der Juden" eingezeichnet ist. Groß war die Gemeinde in Halle allerdings wohl nicht. 1767 habe sie aus 25 Menschen bestanden, die zu vier Familien gehörten, haben die Forscher recherchiert. Auch auf den Grabsteinen finden sich häufig wiederkehrende Namen. Allein zwölf tragen den Nachnamen "Levi". Das älteste noch erkennbare Grab datiert auf das Sterbejahr 1845, das jüngste auf 1927 - sechs Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Selbst der "jüngste" Tote liegt also bereits seit fast 100 Jahren in seinem Grab an der Moltkestraße. Im Gegensatz zu christlichen Friedhöfen dürfen jüdische nie verändert werden. Das Neubelegen von Gräbern nach einigen Jahrzehnten, wie es für Christen durchaus üblich ist, bleibt ausgeschlossen. Die Ruhefrist auf dem jüdischen Friedhof gilt als zeitlich unbegrenzt, da Gräber nach den heiligen Schriften der "Halacha" niemals eingeebnet werden dürfen. Nach dem jüdischen Glauben warten die Toten in ihren Gräbern auf das jüngste Gericht. Halle hatte auch eine Synagoge Die Gräber sind etwa in West-Ost-Richtung angelegt, nach jüdischer Tradition weisen sie in Richtung Jerusalem. Manche der Steine sind zweisprachig beschriftet, die Seite, die Richtung Osten deutet, trägt hebräische Zeichen, diejenige, die Richtung Westen weist, deutsche. Zwei der Familien haben Kosubek und Wiegand ausführlich erforscht, die Sterns und die Goldsteins. Die Goldsteins wurden in den 1940er Jahren deportiert und vermutlich ermordet. Der Familie Stern gelang die Flucht in die USA. Mehr zur ihrer Geschichte und dem Nationalsozialismus in Halle findet sich auf der Internetseite www.haller-zeitraeume.de. Der Friedhof, 1997 in die Denkmalliste der Stadt aufgenommen, gehört heute dem Landesverband der jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. Die Stadt mäht von Zeit zu Zeit den Rasen, schneidet die Hecke. Sorge vor Vandalismus gegen Kampf dem Vergessen Übrigens gab es in Halle auch eine Synagoge. Dabei soll es sich aber nicht um ein eigens gebautes Gebäude gehandelt haben, sondern um ein bestehendes Haus an der heutigen Oldendorfer Straße, welches für diese Zwecke angemietet und als Synagoge geweiht wurde. Das Bethaus wurde demnach 1903 wegen Mitgliedermangels geschlossen, das Gebäude 1982 abgerissen. Dass der Friedhof nahezu vergessen ist, dient auch dem Schutz. "Die Besorgnis gilt Vandalismus", sagt Wolfgang Kosubek. "Es gab immer Zeiten, wo das Sorge bereitete." Nach wie vor sind in Deutschland antisemitische Vorfälle an der Tagesordnung. Die linke Amadeu-Antonio-Stiftung zählte deutschlandweit allein in diesem Jahr bereits 60 Fälle von Vandalismus, Gewalt und Beleidigungen. Etwas mehr Aufmerksamkeit würde trotz der Risiken auch die Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld dem Haller Friedhof wünschen. "Eine Infotafel, dass an dieser Stelle der jüdische Friedhof ist, wäre wunderbar", antwortet Irith Michelsohn auf die Anfrage dieser Zeitung. "Ansonsten fände ich es schon sehr schön, wenn man ein- oder zweimal im Jahr den jüdischen Friedhof in Halle für Interessierte öffnen würde. Allerdings müsste dann jemand Aufsicht führen. Es könnten sich auch Schüler und Schülerinnen einbringen und zu den Grabstellen recherchieren und eventuell einmal etwas zum 27. Januar oder zum 9. November dazu beitragen." Weitere Teile der Serie zu den Lost Places im Altkreis Halle Werthers Wassergeschichten: Die verborgene Geschichte des ersten Schwimmbads Steinhagens Verstecktes Geheimnis: Einblicke in den unterirdischen Bunker Relikte des Kalten Krieges: Borgholzhausens Atomraketen-Basis Halles Verborgene Zuflucht: Die Schutzhöhlen am Teutoburger Wald Das Rätsel von Borgholzhausen: Eine Straße, die ins Nirgendwo führt Güterslohs Vergessene Villa: Ein Einblick in die verlassene Flughafen-Villa Steinhagens Versunkene Erinnerungen: Das vergessene Freibad im Wald Wichlinghausens Geheimnisvolle Ruine: Die Geschichte hinter den verfallenen Mauern Borgholzhausens Dunkle Vergangenheit: Der Lost Place als Zeuge einer schlimmen Zeit Steinhagens Skandalöse Vergangenheit: Das ehemalige Bordell im Fokus Geheimnis um Borgholzhausener Ruine: Auf den Spuren der Geschichte am Steinbruch

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