Hat die Stadt Halle Millionen in den Sand gesetzt?

Halle. Michael Flohr musste sich gegenüber den Fraktionsvorsitzenden des Stadtrates bereits erklären. Mehrere Millionen Euro gehen der Stadt verloren, weil nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts für einige Straßen keine Erschließungsbeiträge von den Anliegern mehr erhoben werden können. Es geht um jene Straßen, deren erster Spatenstich mehr als 25 Jahre zurückliegt. Hat die Verwaltung es versäumt, rechtzeitig die Bescheide hinauszuschicken und dadurch Beträge in Millionenhöhe in den Sand gesetzt? So einfach ist es nicht. Denn es gibt gute Gründe. Der eine ist die völlig überraschende Entscheidung des Gerichts. Das habe gegen die Empfehlung des Städte- und Gemeindebundes entschieden, sagt Michael Flohr, Abteilungsleiter beim Bauamt der Stadt Halle und fügt hinzu: &bdquo;Damit konnte einfach niemand rechnen." Thüringer Weg noch nicht fertiggestellt Abgesehen von diesem gerichtlichen Überraschungspaket gibt es jedoch auch praktische Gründe dafür, warum Straßen bislang nicht abgerechnet wurden. Der eine lautet lapidar: Weil sie schlichtweg noch nicht fertig waren. Ein Beispiel hierfür ist der Thüringer Weg, dessen Erschließungskosten Anliegerbeiträge von 434.000 Euro ergaben. Erster Spatenstich war 1992. Als Endausbaudatum wird das Jahr 2013 notiert. Dass bis heute keine Bescheide ergangen sind, liegt daran, dass der Thüringer Weg rechtlich noch nicht als fertiggestellt gilt. Ein Teil der im Bebauungsplan eingezeichneten Straße ist nie gebaut worden. Zweites Beispiel: Albert-Schweitzer-Straße. Der Bau startete 1980. Aber erst 2019 wurde das letzte Element, der Wendehammer, fertiggestellt, weil die Stadt zunächst den dafür notwendigen Grund nicht bekommen konnte. Na ja, 2019, werden Kritiker sagen, seitdem sind drei Jahre ins Land gezogen. Hätte man in dieser Zeit die fälligen 266.625 Euro nicht einziehen können? Theoretisch, ja. Doch die Praxis in Halle und auch in anderen Kommunen sieht anders aus. Städte und Gemeinden müssen warten, bis tatsächlich die letzte Rechnung eingegangen ist, was manchmal viele Monate dauert, vor allem dann, wenn die Stadt bereits Vorauszahlungen geleistet hat. Üblich war, auch um eine gewisse Planungssicherheit für den Haushalt zu gewährleisten, dass jedes Jahr etwa 400.000 Euro an Erschließungsbeiträgen abgerechnet wurden. Bislang konnte die Stadt den Termin des Endausbaus praktisch selbst bestimmen. Und zwar mit der so genannten Widmung der Straße. Dies ist ein offizieller Akt durch den Straßen, Wege und Plätze die Eigenschaft einer öffentlichen Straße erhalten. Ist die Widmung einer ausgebauten Straße erfolgt, hatte die Stadt anschließend vier Jahre Zeit, Erschließungsbeiträge zu erheben. &bdquo;Das war ja bislang auch schadlos" &bdquo;Mit der Widmung haben wir den Zeitpunkt des Endausbaus und daher die Beitragserhebung gesteuert. Das war jahrelange Praxis, die immer gedeckt wurde", sagt Michael Flohr. Auch, um so den Arbeitsaufwand zu steuern. Denn die Kapazitäten im Bauamt sind begrenzt. Seit einem Jahr ist hier Pauline Pollert als einzige Mitarbeiterin für Erschließungs- und Straßenbaubeiträge zuständig. &bdquo;Vom zeitlichen Aufwand her kann sie im Jahr sechs Straßen abrechnen", sagt Flohr und fügt hinzu: &bdquo;Sechs ist das absolute Maximum." Bald wird Pauline Pollert die Lärmschutzanlage am Künsebecker Weg abrechnen müssen. Aus den Erfahrungen mit der Anlage an der L 782 schätzt Flohr: &bdquo;Dafür wird sie eineinhalb Jahre brauchen." Und mehr, denn immer häufiger wird geklagt. &bdquo;Bei jeder Straße gibt es eine Klage", so der Bauamtsleiter. Die dafür notwendigen Unterlagen muss Pauline Pollert für das Gericht zusammenstellen. Arbeitszeit, die für die Erschließungsbeiträge verlorengeht. Viel größere Sprengkraft als in den Straßen, die endausgebaut sind und für die ein Beitragsverlust von knapp 1,7 Millionen Euro bereits feststeht, steckt allerdings in den sogenannten Baustraßen. Die Stadt Halle zählt 40 dieser Straßen, deren erster Spatenstich bereits mehr als 25 Jahre zurückliegt, die aber, weil noch bestimmte Elemente wie zum Beispiel Bürgersteige oder Abgrenzungen fehlen, bislang noch nicht abgerechnet werden konnten. Mit einem einfachen Dreisatz lässt sich errechnen, dass die entgangenen Beiträge sich im Bereich deutlich über fünf Millionen Euro bewegen. Mit verantwortlich dafür ist auch die Politik. Denn um den Endausbau herzustellen, hätte die Stadt Baumaßnahmen durchführen müssen, was aber teilweise am Widerstand der Anlieger und auch am fehlenden politischen Willen scheiterte. Das Argument: Warum sollen wir es anpacken, wenn die Anlieger es doch nicht wollen. &bdquo;Das war ja bislang auch schadlos", sagt Michael Flohr. Angesichts der bislang herrschenden Gesetzgebung hätte man eine Abrechnung auch noch nach 40 Jahren durchführen können. Schadlos war dieses Prozedere auch für die Anlieger, die damit länger Zeit hatten, Geld anzusparen. Andere Kommunen sind auch betroffen Das Problem ist nicht allein ein Haller Thema. Marco Bloy von der Gemeinde Steinhagen erklärt, auch in Steinhagen gebe es Straßen, für die nun keine Erschließungsbeiträge mehr erhoben werden könnten. Auch für ihn kam die Entscheidung überraschend. &bdquo;Ich hätte mir eine Übergangsfrist gewünscht, so dass man noch das eine oder andere Projekt hätte abrechnen können", sagt er. Bei der Anzahl abgerechneter Straßen pro Jahr liegt Halle mit maximal sechs sogar noch gut. &bdquo;Wenn ich mich nur mit Erschließungsbeiträgen beschäftigen würde, könnte ich zwei bis drei Straßen pro Jahr abrechnen", sagt Marco Bloy.

Meistgelesen

Keine Kneipe, viel Wiese: Stadt will diesen Haller Ortsteil neu gestalten

Neue Rettungswache: Biogasanlage steht dem Blaulicht nicht im Wege

Vollsperrung vor Discounter: Aldi-Kunden können nur noch eine Zufahrt nutzen

Sie sind nahe am Menschen: Diakonie in Halle begrüßt neue Auszubildende

Sie sind nahe am Menschen: Diakonie in Halle begrüßt neue Auszubildende Die Auszubildenden starten in der Pflege in Halle, Werther, Versmold und Steinhagen sowie in der Verwaltung.

Neuer Chef der Unfallchirurgie will OP-Angebot in Halle erweitern Dr. Güclü Adigüzel wechselt...