
Es beginnt mit einer Stimme. Kein Intro, kein Tutorial – nur das Rauschen der Wellen, das Kreischen einer Möwe, und ein Mann, der spricht: „Dear Esther “.
Schon dieser erste Satz lässt erahnen, dass hier etwas anderes passiert als in herkömmlichen Spielen. Kein Ziel, kein Gegner, kein Rätsel. Nur ein Spaziergang über eine verlassene Insel, begleitet von Fragmenten eines Briefs an eine Frau, die wir nie zu Gesicht bekommen.
Als „Dear Esther“ 2012 erschien, war es ein Fremdkörper in der Welt der Videospiele – und wurde doch zu einem ihrer wichtigsten Wegweiser.
Der Anfang einer stillen Revolution

Die Geschichte des Spiels beginnt einige Jahre früher, an der Universität von Portsmouth. Dan Pinchbeck, Kulturwissenschaftler mit Fokus auf Narrative in Computerspielen, experimentierte 2008 mit einer „Half Life 2“-Modifikation. Sein Ziel: die Mechanismen von Erzählung in interaktiven Räumen zu untersuchen.Was dabei herauskam, war ein Prototyp, der so ungewöhnlich war, dass kaum jemand wusste, wie man ihn nennen sollte.
Vier Jahre später, in Zusammenarbeit mit Komponistin Jessica Curry, wurde daraus die Standalone-Version – eine poetisch aufgeladene Reise über eine fiktive Insel der schottischen Hebriden. Keine Missionen, keine Belohnungen. Nur das Erkunden, das Zuhören, das Verweilen.
Der Clou: Die gesprochenen Textfragmente werden zufällig aus einem größeren Pool ausgewählt. Kein Durchlauf gleicht dem anderen. Was wir hören, ist also nie vollständig, immer fragmentarisch – wie eine Erinnerung, die sich selbst rekonstruiert.
Der Trailer zu „Dear Esther“
Ein Spiel ohne Spiel – und gerade deshalb ein Kunstwerk
Damals war das eine Provokation. 2012 galt Interaktivität als unantastbares Kernprinzip des Mediums. Wer „nicht spielte“, konnte kein Spiel erleben – so der Konsens vieler Kritiker. „Dear Esther“ stellte das infrage.
Das Werk zwang uns, die Definition von Spielen zu erweitern. Es ist kein interaktives Drama, kein Rätsel, keine Simulation. Es ist – im besten Sinne – eine digitale Erzählung. Eine, die das Medium an seine ästhetischen Grenzen führt: Bewegung wird zur Bedeutung, Landschaft zur Sprache.
Jessica Currys Musik spielt dabei eine zentrale Rolle. Sie lässt den Raum atmen, zieht ihn weit auf, dann wieder zusammen. Currys Kompositionen umhüllen die Insel wie ein zweiter Nebel – sie erzählen keine Geschichte, sie erzeugen ein Gefühl.
Zwischen Faszination und Frustration
Die Reaktionen damals waren heftig. Auf der einen Seite das Feuilleton, das „Dear Esther“ als Durchbruch für das Medium Videospiel als Kunstform feierte. Dennis Kogel schrieb in der „Zeit“: „Das Meisterwerk ’Dear Esther’ ist kein Spiel mehr, sondern vielmehr ein Storytelling-Experiment – und Aushängeschild für eine professionalisierte Indie-Games-Szene.“ Auf der anderen Seite gab es Spielerinnen und Spieler, die irritiert zurückblieben: „Ich habe nichts getan“, lautete einer der häufigsten Kritikpunkte.
Aber genau das war der Punkt. „Dear Esther“ forderte ein anderes Spielverhalten: passiv, lauschend, nachdenklich. Es verlangte, dass wir den Controller loslassen – zumindest geistig. Dass wir bereit sind, in der Leere etwas zu entdecken.
Die Diskussion, ob „Dear Esther“ überhaupt ein „Spiel“ sei, führte zu einem Begriff, der zunächst abwertend gemeint war: Walking Simulator. Heute steht dieser Begriff für ein ganzes Genre narrativer Erlebnisse – von „Gone Home“ über „Firewatch“ bis „What Remains of Edith Finch“.
Die poetische Leere: Ästhetik des Dazwischen

Was „Dear Esther“ bis heute besonders macht, ist seine Unbestimmtheit. Es erzählt nicht linear, sondern elliptisch – wie ein Tagebuch, dessen Seiten verweht wurden. Die Insel ist zugleich realer Ort und Symbolraum. Sind wir ein Geisterwanderer, ein Schuldiger, ein Toter? Der Text gibt keine Antwort, nur Andeutungen: biblische Zitate, chemische Formeln, Erinnerungen an einen Autounfall.
Diese poetische Leere macht das Spiel so kraftvoll, aber auch anstrengend. Es zwingt uns, selbst zu interpretieren, Bedeutungen zu weben, die sich nicht überprüfen lassen. In Zeiten algorithmisch erzeugter Klarheit wirkt „Dear Esther“ wie ein Gegenentwurf – ein Werk, das Ambiguität als Stärke begreift.
Warum „Dear Esther“ heute wieder wichtig ist

Mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Veröffentlichung hat „Dear Esther“ nichts von seiner Relevanz verloren – im Gegenteil. In einer Zeit, in der Isolation, Verlust und digitale Einsamkeit zu kollektiven Erfahrungen geworden sind, wirkt das Spiel fast prophetisch.
Wer 2025 durch die stillen Küstenlandschaften streift, erkennt darin vielleicht mehr als nur eine fiktionale Insel: die Spiegelung unserer eigenen Entfremdung. In einer Welt, die ständig nach Input verlangt, ist „Dear Esther“ ein radikaler Akt der Entschleunigung.
Zudem steht das Spiel am Anfang einer Entwicklung, die das Storytelling in Games nachhaltig verändert hat. Ohne „Dear Esther“ gäbe es vermutlich keine narrative Tiefe von „Firewatch“, keine visuelle Poesie von „Journey“, keine intime Melancholie von „Everybody’s Gone to the Rapture“ – jenem spirituellen Nachfolger, den The Chinese Room 2015 veröffentlichte.
Und während das Studio heute mit neuen Projekten arbeitet („Vampire: The Masquerade – Bloodlines 2“ erscheint am 21. Oktober 2025, „Still Wakes the Deep“ ist 2024 erschienen), lohnt sich der Blick zurück: auf das Spiel, das alles begann.
Fazit: Die Stille als Antwort
„Dear Esther“ bleibt ein außergewöhnliches Stück Gamegeschichte – leise, poetisch, unbequem. Es erinnert uns daran, dass Spielen mehr sein kann als Interaktion: ein Lauschen, ein Denken, ein Erinnern.Vielleicht ist das Schönste an diesem Spiel, dass es nichts erklärt. Es lässt uns allein – und traut uns zu, mit dieser Einsamkeit etwas anzufangen.
„Dear Esther“ ist seit dem 14. Februar 2012 für PC erhältlich und seit dem 20. September 2016 für PS4 und Xbox One. Am 14. Februar 2017 erschien die „Dear Esther: Landmark Edition“ für alle Plattformen mit einem Wechsel von der Source-Engine auf die Unity-Engine. Das Spiel kostet rund 10 Euro und ist ab 12 Jahren freigegeben.
Transparenzhinweis: Wir haben das Spiel auf einer PS5 Pro getestet und es selbst gekauft.