Kreis Gütersloh

Kampf für mehr Menschlichkeit: Sie legt sich seit Jahren mit Tönnies an

Inge Bultschnieder war die Erste, die auf die grausamen Lebensbedingungen von Werkvertragsarbeitern aufmerksam gemacht hat. Oft wurde sie davor gewarnt, sich mit Tönnies anzulegen. Sie hat es trotzdem getan.

Inge Bultschnieder hat miterlebt, wie die Tönnies-Mitarbeiter unter den Arbeits- und Lebensbedingungen leiden. | © Andreas Frücht

Lena Vanessa Bleck
05.07.2020 | 05.07.2020, 18:00

Kreis Gütersloh. In Rheda-Wiedenbrück kennt sie fast jeder – und in ganz Deutschland wohl bald auch. Inge Bultschnieder scheint aktuell eine der meistgefragten Interview-Partner zu sein. Journalisten deutscher und sogar ausländischer Medien geben sich quasi die Klinke ihres Hauses in die Hand.

Gerade erst war die Washington Post da, mit dem Nachrichtensender BBC hat Bultschnieder zuvor schon im heimischen Garten gedreht. Täglich neue Anfragen. „Ich koche mir jetzt erstmal einen Kaffee, wenn das okay ist?", sagt sie und atmet tief durch. Rede und Antwort stehen macht müde – auch, wenn es wie in Bultschnieders Fall um eine Herzensangelegenheit geht.

Plötzlich kamen mehrere Männer, dann musste Katja das Krankenhaus verlassen

Seit vielen Jahren kämpft die Rheda-Wiedenbrückerin für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen von Werkvertragsarbeitern in ihrer Heimat. Warum? Weil sie selbst gesehen hat, wie dramatisch die Lage der meist osteuropäischen Tönnies-Arbeiter wirklich ist.

Inge Bultschnieder aus Rheda-Wiedenbrück. - © Marion Pokorra-Brockschmidt
Inge Bultschnieder aus Rheda-Wiedenbrück. (© Marion Pokorra-Brockschmidt)

Vor acht Jahren liegt Bultschnieder im Krankenhaus neben der abgemagerten Katja aus Bulgarien. Die junge Frau war gerade am Fließband bei Tönnies zusammengebrochen. Sie hatte keine Krankenversicherung und massive Angst. „Plötzlich kamen mehrere Männer rein und Katja musste das Krankenhaus verlassen", erinnert sich Bultschnieder. Ein Schock für die Deutsche. Katja sei gesundheitlich am Ende gewesen – die Entlassung aus dem Krankenhaus fahrlässig.

Mehr als 12-Stunden-Schichten

Bultschnieder bleibt in Kontakt mit der Bulgarin, sie hört sich ihre Geschichte an, trifft sie in ihrer Unterkunft, erfährt grausame Details. Jeden Tag muss Katja mit einem Messer den Schinken von den Knochen lösen. Schwerstarbeit im Stehen, bei eisiger Kälte. Mehr als 12-Stunden-Schichten sind normal, entzündete Gelenke ebenso.

Und das alles für knapp 1.000 Euro im Monat. Als Katja noch mal zusammenbricht und für längere Zeit im Krankenhaus bleiben muss, verliert sie ihren Job.„Ich habe sie damals bei mir aufgenommen. Sie hatte ja niemanden. Mir war spätestens da klar, dass sich etwas ändern und dieses Elend publik werden muss."

"Lass es lieber. Die bringen dich und deine Kinder um"

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In aller Öffentlichkeit über Missstände bei Europas größtem Schlachtkonzern sprechen? Sich mit Firmen-Boss Clemens Tönnies anlegen? Fast alle raten der Familienmutter davon ab. „Vielen haben mir gesagt, lass es lieber. Die bringen dich um, die bringen deine Kinder um", so Bultschnieder. Natürlich habe sie Angst gehabt, weiter wegzuschauen sei aber definitiv keine Option gewesen. Nicht, wenn man die Zustände mit eigenen Augen gesehen habe.

Bultschnieder ist die Erste, die damals das ausspricht, was viele schon ahnten. Sie gründet die Interessengemeinschaft „WerkFAIRträge" und legt den Finger in die Wunde. 120 Bürger engagieren sich heute für die Werkvertragsarbeiter in Rheda-Wiedenbrück. Gemeinsam kämpfen sie für mehr Rechte, für bessere Unterkünfte, für mehr Menschlichkeit.

Sogar Sigmar Gabriel war da - geändert hat sich kaum etwas

Immer wieder habe sie die Hoffnung gehabt, dass die Politik sich daraufhin auch endlich einmischt und etwas tut, sagt Bultschnieder. 2013 saß sogar Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) bei Bultschnieders zuhause am Esstisch. Voller Euphorie habe sie ihn empfangen, voller Elan seine Fragen beantwortet. Anschließend sei er selbst im Tönnies-Werk gewesen – grundlegend geändert habe sich trotzdem nichts.

Auch die Wohnkontrollen, die seit einigen Jahren nun in den Unterkünften stattfinden, bringen laut Bultschnieder nichts. Die Kontrollen würden immer angekündigt, sodass genug Zeit ist, um alles vorzubereiten. Die Unterkünfte würden aufgeräumt und Bewohner würden für einige Tage verschwinden. Ebenso der eingeführte runde Tisch der Kreis-Politik: „Viel Gerede, wenig Taten."

"Sein eigenes Gesicht zeigt der nur, wenn es um Schalke geht"

Tönnies habe einfach zu viel Einfluss, zu viel Macht. „Dagegen kann ich nicht ankommen", sagt Inge Bultschnieder. Persönlich gesprochen habe sie mit dem Firmen-Boss noch nie. Er schicke immer nur andere vor. „Sein eigenes Gesicht zeigt der nur, wenn es um Schalke geht." Früher hätte sie ein Gesprächsangebot sofort angenommen. Weil sie damals noch gedacht habe, man könne den millionenschweren Unternehmer mit Worten berühren. „Davon bin ich ab. Er hat das Wort nicht mehr verdient. Bei den leeren Versprechungen kommt eh nichts herum."

Aufgeben wird Inge Bultschnieder deshalb aber nicht. Ihre Hoffnung auf Verbesserung sei nie größer gewesen als in diesen Tagen. Die Aufmerksamkeit könne helfen, dass sich endlich etwas ändert. Und dazu will sie weiter beitragen. Dafür nehme sie auch weniger Schlaf und stundenlange Gespräche mit Journalisten in Kauf, sagt sie und lacht. Ihr Handy klingelt schon wieder. Eine Freundin, die Bultschnieder gebeten hat, als Dolmetscherin zu helfen. Sie sagt zu. Denn morgen steht schon der nächste Fernseh-Dreh an.

Info
Werksstrich bei Tönnies?
Seit Jahren schon kursieren Gerüchte, dass es im Tönnies-Parkhaus einen Werksstrich gibt. Ob das wirklich stimmt, weiß Inge Bultschnieder nicht – doch sowohl Werkvertragsarbeiter als auch andere Mitarbeiter hätten ihr das schon mehrfach berichtet. „Bei einer Wohnraumkontrolle bei einer Männerunterkunft in Lintel habe ich früh morgens mal eine Frau mit einem sehr kurzen Rock gesehen. Vielleicht tue ich ihr unrecht, ausschließen möchte ich einen Werksstrich aber nicht." Auch von sexueller Belästigung in den Umkleidekabinen höre sie immer wieder. „Viele Frauen haben Angst."