Werther. Ein älterer Mann, der innerlich jung geblieben ist. Ein Gesicht, das viel erlebt hat, aber auch Gelassenheit ausstrahlt. Ein cooler Opa, so würden viele den Mann beschreiben, der in Dietmar Wadewitz’ Kamera schaut. Möglicherweise trifft alles auf den Mann mit dem weißen Rauschebart zu, eines aber sieht man ihm auf dem Foto nicht an. Der Mann ist obdachlos.
Ein Jahr lang hat Dietmar Wadewitz jeden Mittwoch mit Menschen, um die die meisten lieber einen Bogen machen, an der Bielefelder Tüte gesessen. Dem Platz vor dem Hauptbahnhof, an dem sich Drogen-, Alkoholkranke und Obdachlose treffen und der wegen der Form des Glasdachs über dem Eingang zur U-Bahnstation, Tüte genannt wird. Der Wertheraner hat ihnen zugehört, mit ihnen geschwiegen - und einige von ihnen wunderbar porträtiert.
Eine Bekannte engagierte sich im Verein „Miteinander stark“. Der betreibt in Bielefeld den Suppenbus, der an der Tüte Mahlzeiten ausgibt. Dietmar Wadewitz wollte sich gerne einbringen. Aber ehrenamtliche Helfer gab es schon genug. „Also habe ich überlegt, was ich machen kann, und mein Talent ist, Menschen zu fotografieren.“
Wertheraner wurde sehr schnell aufgenommen
Wadewitz hat als systemischer Coach und Porträtfotograf die Methode Fotocoaching entwickelt. Holt damit aus seinen Klienten deren Stärken, Persönlichkeit und innere Schönheit an die Oberfläche und fertigt Fotos, die den Kunden später helfen sollen, sich auf ihre Stärken rückbesinnen zu können. Und genau das wollte er auch den Menschen an der Tüte geben.
Wadewitz wollte die Menschen kennenlernen, bevor er sie fotografierte. „Also habe ich mich zu ihnen gesellt.“ Die Kamera hatte er dabei zwar in der Hand, um keine falschen Tatsachen vorzuspiegeln, aber in den ersten Wochen hat er sie nicht benutzt.
„Ey, du willst doch wohl nicht fotografieren!“, rief ihm am ersten Tag einer der Menschen vor der Tüte zu. „Nein, aber wenn Sie mich schon so nett ansprechen, können wir uns ja vielleicht unterhalten“, antwortete Dietmar Wadewitz - und schon war er im Gespräch. „Ich bin sehr schnell aufgenommen worden. Nach kurzer Zeit hieß es: „Ach, da kommt er wieder“. Nur sehr wenige hätten den Kontakt mit ihm abgelehnt.
Die Lebensgeschichten der Drogenkranken bewegen ihn
Inzwischen, so sagt er, kenne er „die ganzen Lebensgeschichten dieser Menschen“, oder zumindest die Teile davon, die sie ihm erzählen wollten. „Ich habe das Gefühl, diesen Menschen hört sonst niemand zu“, sagt er.
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Da gab es die junge Frau, die sich zwar von ihm fotografieren ließ, aber nicht wollte, dass ihr Bild veröffentlich wird. „Ich bin noch nicht lange in Bielefeld. Ich komme aus Frankfurt“, sagte sie, „und wenn mein altes Frankfurter Umfeld die Bilder sehen würde, dann sind die ganz schnell hier bei mir.“ Dietmar Wadewitz fragte nicht nach den Hintergründen. Er spürte auch so die Angst. „Ich vermute, dass es um Prostitution geht“, sagt er.
Eine andere sehr junge Frau hat ihn besonders berührt. Während sich bei der Essensausgabe alle anderen um den Suppenbus drängten, saß sie immer abseits und signalisierte, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. „Sie guckte immer weg und war überhaupt nicht erreichbar“, sagt Dietmar Wadewitz.
Drogenabhängigen bleibt kein Geld für Essen
Ihm und den Mitgliedern von „Miteinander stark“ geht es darum, die Leute zu nehmen, wie sie sind. Sie nicht zu verurteilen, sondern zu helfen. „Zuhören - das gibt den Menschen Lebensmut, wenigstens ein kleines Stück. Und auch mal Stille aushalten“, fasst Dietmar Wadewitz seine Aufgabe zusammen.
Nicht immer konnte er aushalten, was er sah. Als ein Mann einen Gasbrenner und Löffel auspackte, um Drogen aufzubereiten, ging der Wertheraner auf Abstand. „Das tut mir nicht gut, weil ich dann gerne hingehen und sagen würde: Lass es“, sagt er. „Da liegt dann auch manchmal Gewaltbereitschaft in der Luft. Und das bin ich nicht.“
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Die Suppenküche bietet andere Hilfe. Denn die Drogenabhängigen geben jeden Cent für ihre Drogen aus. Für Essen bleibt nichts. „Neben der Suppe gibt es immer Bananen, denn der Mundraum geht durch den Drogenkonsum kaputt, und die Bananen sind weich und tun nicht weh.“
Die Obdachlosigkeit ist nicht zu erkennen
Als Dietmar Wadewitz nach Wochen den ersten Gesprächspartner darum bat, ihn fotografieren zu dürfen, kam die Frage: „Wozu machst du das Foto?“ - „Nur für dich, du kriegst das Foto von mir“, sagte der Wertheraner und drückte dem Mann eine Woche später den Abzug in die Hand. „Die Leute sind so stolz auf die Bilder“, sagt Wadewitz. „Wenn ich morgens in den Spiegel gucke, finde ich mich voll scheiße, jetzt finde ich mich voll gut“, habe eines seiner Modelle gesagt.
Und tatsächlich: Auf den 28 Fotografien, die in dem Jahr entstanden sind, sieht man den Menschen ihre Lebensumstände nicht an. Aber ihre Persönlichkeit, das, was sie jenseits von drogensüchtig, alkoholabhängig, obdachlos oder arm sind, scheint durch Dietmar Wadewitz’ Kamera wieder zum Vorschein zu kommen.
Seit Ende Oktober hängt eine Auswahl seiner Porträts - noch bis zur Adventszeit - in der Altstädter Nikolaikirche in Bielefeld. „Mitten unter uns“ so der Titel der Ausstellung. Zur Eröffnung kamen viele der Abgebildeten als Ehrengäste. „Die Motivation war, dass es Kaffee und Kuchen gab“, sagt er lächelnd, aber sie seien auch sehr stolz gewesen.
Sie lebten mitten unter uns, aber man sehe sie nicht, habe der Pfarrer der Nikolaikirche bei der Vernissage gesagt. Und dann gebe es welche, die koksten, tränken viel Alkohol und gingen danach auf den Golfplatz. Der Vergleich hat Dietmar Wadewitz gut gefallen. Er wird auch weiterhin jeden Mittwoch an die Tüte gehen, sich dazu setzen und zuhören. Diese Woche, sagt er, aber zum ersten Mal ohne seine Kamera.
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