Werther. Wenn es um die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin geht, ist Wolfgang Decius um kreative Ideen nicht verlegen. Eigens für die Praxisbörse der Kassenärztlichen Vereinigung jüngst in Bielefeld hat er ein Sweatshirt mit Werbung in eigener Sache drucken lassen. „Hausarztpraxis in Werther“, steht in großen Lettern darauf geschrieben. „Zentrale Lage, treuer Patientenstamm, abwechslungsreiche Klientel, Übernahme ab jetzt oder bis zum 1. April 2025, Praxisinventar mit Sono, Lufu, Ergometer, L-RR, L-EKG, Turbo-Med.“ Und weiter: „Miete für zwei Jahre oder länger: 800 Euro monatlich plus Nebenkosten.“
„Gut, oder?“, fragt er seine Kollegin und seine Kollegen bei einem gemeinsamen Pressetermin am Freitagmittag in seiner Praxis. Die kannten das Shirt noch nicht und müssen lachen: „Das hast du nicht echt getragen, oder?“
Und ob er hat. Denn der beliebte Hausarzt, der seit 1981 am Wellenpöhlen seine Praxis betreibt, ist in echter Not. „Da muss man sich was einfallen lassen.“
Alle Praxen in Werther haben einen Aufnahmestopp
Dass die Lage ernst ist, geht nicht nur Wolfgang Decius so. Auch die fünf Ärztinnen und Ärzte der drei weiteren Wertheraner Hausarztpraxen machen sich Sorgen. „Drei von uns sind bald 60 Jahre oder älter - wie soll es weitergehen?“, fragt Olaf Müller-Upmeier zu Belzen, selbst 59 Jahre alt.
Würde Wolfgang Decius seine Praxis schließen, stünden mit einem Schlag rund 2.500 Patienten ohne hausärztliche Versorgung da. Und die übrigen drei Praxen vor Ort könnten kaum einspringen. Sie haben schon heute einen Aufnahmestopp, manche von ihnen führen bereits Wartelisten. Wenn überhaupt, haben höchstens Wertheraner eine Chance, Patienten aus Halle, Borgholzhausen oder dem Spenger oder Bielefelder Raum gehen leer aus. Und das hat Gründe.
Alle Praxen treibt ein nie dagewesenes Personalproblem um. „Wir finden einfach keine Leute“, spricht Decius im Namen seiner Arbeitskolleginnen und -kollegen. „Wir stehen mit dem Rücken an der Wand.“ Er selbst könne viele Sprechstunden am Nachmittag schlicht nicht anbieten, weil er kein Personal habe.
Ein Interessent auf 160 Arzt-Stellen
Dass Wolfgang Decius sich überhaupt seinen Humor bewahrt hat, ist sicher nicht der Situation vor Ort geschuldet, sondern seinem fröhlichen Naturell. Würde er seinen Beruf nicht so lieben, hätte er die Sache vermutlich schon längst drangegeben.
Daher fand er die Idee einer Praxisbörse in Bielefeld eigentlich gut. Über sie wollte die Kassenärztliche Vereinigung praktizierende Hausärzte mit angehenden Medizinern zusammenbringen, um das Nachfolgeproblem zu lösen. „Raten Sie mal, wie viele gekommen sind“, fragt Decius. „160 Ärzte aus einem Umkreis von 150 Kilometern, die alle einen Nachfolger suchen - und genau ein Interessent.“
Wolfgang Decius ist jetzt 75 Jahre alt. Seit drei Jahren bemüht er sich um einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für seine Praxis - bislang ohne Erfolg. Dabei ist er der beste Werbeträger für seinen Berufsstand, den sich die Ärztekammer wünschen kann. „Dieser Beruf ist einfach großartig“, findet er. „Jeder Tag ein neues Abenteuer.“ Der Umgang mit den Patienten, kein Tag wie der andere, mehr Abwechslung ginge nicht.
Schwierige Suche nach den Gründen des Ärztemangels
Und das Umfeld in Werther stimme auch. Die Umgebung sei toll, es gebe Kindergärten, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten, eine gute Busanbindung nach Bielefeld. „Eigentlich alles da“, sagt er, ideal für junge Familien. Und trotzdem wolle niemand die Praxis übernehmen.
Woran also liegt es? Wolfgang Decius und seine Kollegen vermuten: vielleicht daran, dass viele die Verantwortung einer eigenen Praxis scheuen. Dass sie nicht so viel Zeit investieren wollen. Dass sie lieber am Monatsende einen Gehaltsscheck in den Händen halten wollen, statt selbst einen auszustellen. Dass sie sich der Büroarbeit nicht gewachsen fühlen. „Die ja niemand von uns gelernt hat“, so Dirk Decius. Denn mit einer Hausarztpraxis leite man ja ein kleines Unternehmen.
Und ja, nennt Wolfgang Decius das Kind beim Namen: Die Schlagzahl in einer Hausarztpraxis sei schon gewaltig. Er selbst arbeite jeden Tag zwischen 100 und 110 Patientenvorgänge ab. So viele Personen kämen zwar nicht in die Praxis, aber es müssten auch Rezepte ausgestellt, Überweisungen geklärt oder andere Formalitäten geregelt werden. Und für das, was ein Oberarzt im Krankenhaus verdient, müsse er schon ganz schön strampeln. „Allgemeinmediziner verdienen heute eher am unteren Ende der Arztberufe.“
„Wir können nicht nur Fußpilz und Schnupfen“
Gleichzeitig sei von Hausärzten ein fachübergreifendes Wissen gefragt. „Wir können nicht nur Fußpilz und Schnupfen“, bringt es Decius auf den Punkt. Sich solches Wissen anzueignen habe ihm allerdings immer großen Spaß gemacht, „ich finde Fortbildungen sehr bereichernd. Denn wie lange dauert es, bis einer meiner Patienten einen Termin beim Kardiologen oder beim Orthopäden bekommt?“
Müller-Upmeier verschweigt allerdings auch nicht, dass eine geschlossene Praxistür nicht heißen muss, dass der Arzt nicht arbeitet: „Ich sitze jeden Mittag eine Stunde daran, Dinge zu regeln und Fragen abzuklären, zu denen ich während des normalen Patientenbetriebs nicht komme. Und am Wochenende plane ich einen Tag für die Büroarbeit ein.“ Dirk Decius berichtet, dass er dies nach Praxisschluss mache. „Ich habe dafür meine Frau“, schildert Wolfgang Decius und weiß genau, wie privilegiert er damit ist.
Alle sechs Hausärzte in Werther bedauern, dass die Entscheidung für eine medizinische Fakultät an der Universität Bielefeld so spät gefallen ist. „Zehn Jahre zu spät für uns“, meint Olaf Müller-Upmeier zu Belzen.
Gemeinsames Ärztehaus für Werther?
Die sechs Hausärzte haben sich inzwischen an den Bürgermeister gewandt, sehen auch die Stadt in der Pflicht. Eineinhalb Stunden hätten sie jüngst zusammengesessen, berichten Decius und Müller-Upmeier. Denn für sie ist das Vorhalten von Kindergärten, Schulen oder Wohnraum gleichbedeutend mit dem Vorhalten von ausreichend Hausärzten, nennen dies einen Teil der Daseinsfürsorge. „Natürlich kann eine Stadt keine Ärzte einkaufen. Aber sie kann dafür sorgen, dass sich die Rahmenbedingungen verbessern“, betont Müller-Upmeier. Als Beispiele nennt er Hilfe bei der Wohnungssuche, einen Mietzuschuss oder ähnliche weiche Faktoren. „Was andere Kommunen übrigens bereits leisten“, wie Stefanie Schwalfenberg (46) weiß, die zusammen mit Dirk Decius (50) eine Praxisgemeinschaft betreibt.
Vielleicht sei die Zeit der Einzelkämpfer auch vorbei, sagen Werthers Hausärzte. Vielleicht seien Gemeinschaftspraxen oder ärztliche Versorgungszentren die Zukunft. „Als ich angefangen habe, war es selbstverständlich, dass ein Hausarzt Tag und Nacht erreichbar war. Das ist heute auch nicht mehr so“, nennt Müller-Upmeier ein Beispiel. Und Wolfgang Decius erzählt von der Idee, in Werther ein gemeinsames Ärztehaus mit allen vier Praxen zur Personaloptimierung und für den Patientenkomfort zu gründen. Die Stadt bemühe sich bereits um ein Grundstück im Ortszentrum und helfe bei der Investorensuche, so Decius.
„Und ich mache erst einmal weiter“, sagt er. Sehr zur Freude seines Praxisteams - und bestimmt auch seiner Patientinnen und Patienten.

