Mutmacher

Nach schwerer Depression: Er boxt sich in Versmold zurück ins Leben

Lars Lietmann hat einen langen Leidensweg hinter sich. Heute geht es ihm körperlich und geistig besser - dank Kampfsport. Er macht seine Geschichte öffentlich, um anderen zu helfen.

Lars Lietmannn (Mitte) fühlt sich in der Versmolder Kampfsportschule bestens aufgehoben. Frank und Claudia Unzicker freuen sich, dass ihm Boxen und Kickboxen beim Kampf gegen die Depressionen weiterhelfen. | © Tasja Klusmeyer

Tasja Klusmeyer
27.09.2024 | 27.09.2024, 19:43

Versmold. „Mein Name ist Lars. Ich leide seit gut zehn Jahren an schweren Depressionen und hatte im Alter von 33 Jahren bereits zwei Burnout-Erkrankungen. Ihren Höhepunkt fanden meine Depressionen im Jahr 2021 mit einem mehrmonatigen stationären Klinikaufenthalt.“ Mit diesen Worten beginnt die Geschichte, mit der sich ihr Verfasser ans „Haller Kreisblatt“ wendet. Wir haben Lars getroffen.

Die Spätsommersonne steht tief über den Dächern der Innenstadt. Sie wärmt angenehm. Auf dem Platz vor der Kampfsportschule an der Altstadtstraße treffen nach und nach Sportlerinnen und Sportler ein. Ein groß gewachsener Mann kommt um die Ecke und läuft zielstrebig auf Claudia und Frank Unzicker zu. Am Training kann Lars Lietmann an diesem Abend nicht teilnehmen, er hat gerade eine Zahn-OP hinter sich. Der 36-Jährige ist gekommen, um sich mit dem HK zu unterhalten. Warum er mit seiner sehr persönlichen Geschichte den Weg in die Öffentlichkeit geht? „Weil ich gerne so etwas gelesen hätte, als es mir schlecht ging“, antwortet der Füchtorfer.

Es gab viele Tage im Leben des 36-Jährigen, da lagen dunkle Schatten über seiner Seele. Der Kfz-Sachverständige leidet an einer funktionalen Depression. „Es ist ein fließender Übergang“, beschreibt er die Anfänge der Erkrankung. Die Familie merkt, dass irgendetwas nicht stimmt, vor allem „weil ich eine sehr negative Sicht hatte“, schildert Lars Lietmann.

Selbstwert ist viele Jahre lang im Keller

Der Füchtorfer holt sich Hilfe. Einen wesentlichen Anteil am heutigen Wohlbefinden hat der Kampfsport. Viermal die Woche trainiert er in Versmold und fühlt sich in der Gemeinschaft wohl. „So gut wie heute ging es mir in den letzten zehn Jahren nicht mehr.“

Wie es dazu gekommen ist? Das soll Lars Lietmann am besten selbst erzählen. Mit „Kickboxen gegen Depressionen - Fazit nach einem Jahr Kampfsport“ hat er seinen Erfahrungsbericht überschrieben (wir haben ihn etwas gekürzt). Er geht weiter nach dem mehrmonatigen Klinikaufenthalt:

„Das Jahr darauf habe ich mich mit Hilfe von Medikamenten von Tag zu Tag gequält und war einfach nur froh, wenn der Tag, die Woche, der Monat vorbei waren. Aufgrund mangelnder Sorgfalt mit mir selbst - teils auch in Verbindung mit der Einnahme von unterschiedlichen, aber notwendigen Medikamenten - hatte ich zudem mit starkem Übergewicht Probleme. Fast nicht vorhandenes Selbstbewusstsein in Verbindung mit dem Übergewicht ließ den Rest Selbstwert komplett verschwinden.

Am Anfang kostet das Boxtrainig Überwindung

Ich wusste, ich musste etwas tun, um diese Negativspirale, das Gedankenrasen und meinen gegen mich selbst gerichteten Verstand zumindest zeitweise einzudämmen. Durch eine erfahrene Anhedonie (eine mögliche Begleiterscheinung von Depressionen) habe ich jegliches Interesse an meinen vorherigen Leidenschaften und Hobbys verloren. Zudem fehlte neben der Arbeit die Aufgabe - was für einen sehr unentspannten Charakter wie meinen heikel ist. Dadurch war ich ratlos, was mir außer meiner Familie und der Psychotherapie Halt geben könnte.

Bekannt ist, dass eigentlich jede Art von Sport hilfreich bei Depressionen und bei Übergewicht ist. In den Unterlagen der Klinik stand, dass Kampfsport im Besonderen gut gegen Depressionen wirkt. Da dachte ich mir: Wenn ich mental schon die ganze Zeit niedergeschlagen bin, dann kann es nicht so schlimm sein, wenn ich auch körperlich mal niedergeschlagen werden sollte.

Also habe ich nach Angeboten in der Nähe Ausschau gehalten und bin auf die Kampfsportschule Versmold gestoßen. Ich bin mit großer Aufregung zum Probetraining gefahren und habe erst gedacht: Hoffentlich gefällt es mir. Dann war mir aber klar: Mit meiner krankheitsbedingten, universellen Abneigung und circa 40 Kilogramm Übergewicht wird mir so ein hochanstrengendes Training natürlich nicht gefallen. Dies führte zu dem Gedanken, dass es aber auch komplett egal ist, ob es mir gefällt. Ich wusste, ich muss was gegen das Gedankenrasen und etwas für meinen Körper tun. Da habe ich mir gesagt, ich sehe das Training einfach wie einen Besuch beim Arzt. Diese Besuche machen auch keinen Spaß, aber ich verpasse keinen Termin, weil ich weiß, dass es wichtig ist.

Gewichtsabnahme verhilft zu neuer Zufriedenheit

Das erste Training ließ sich meinerseits nur mit dem Begriff „überfordert“ beschreiben. Diese Art der Beanspruchung war mein Körper nicht gewohnt. Aber trotz der gefühlten Überforderung war schon am Abend nach dem Training mein Kopf herrlich ruhig. Aufgrund meiner Einstellung, das Training wie einen Arztbesuch zu sehen, bin ich schon fast störrisch zweimal die Woche zum Kickboxen gegangen.

Nach zwei Monaten und den ersten spürbaren Steigerungen in der Ausdauer und dem Abbau von Körpergewicht und vor allem dem viel größeren mentalen Wohlbefinden, hat es angefangen, Spaß zu machen. Seitdem brauche ich mich nicht zu überwinden. Der Sport ist fest in meinem Alltag integriert. Nach sechs Monaten im Training wurde neben dem Kickboxen noch zweimal die Woche klassisches Boxen angeboten. Das habe ich wohlwollend angenommen.

In genau einem Jahr habe ich 26 Kilogramm trotz deutlichem Muskelaufbau abgenommen. Die unübersehbare körperliche Veränderung wird nahezu wöchentlich von Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen oder der Familie anerkennend kommentiert, was sich positiv auf den Selbstwert auswirkt. Nicht nur das Gewicht, die Haltung selbst ist eine ganz andere als zuvor.

Stress und Wut landen im Versmolder Boxsack

Die körperlichen Verbesserungen und die gesteigerte Wehrhaftigkeit sind für mich persönlich quasi nur Nebeneffekte des Trainings. Was sich mental in dieser überschaubaren Zeit verändert hat, habe ich nicht zu hoffen gewagt. Ich bin deutlich gelassener, schlafe besser und nach dem Training ist der Kopf wunderbar frei. Alles, was ich an Wut, Stress und Unsicherheit in mir trage, schlage und trete ich in Boxbratzen oder den Boxsack - und es strömt in Form von Schweiß aus mir heraus. Körper und Geist hängen doch mehr zusammen, als ich glauben wollte.

Aber ich muss auch ehrlich sagen, dass ich Glück gehabt habe mit der Wahl der Kampfsportschule. Denn selbst, wenn mir der Sport gefallen hätte, das Team aber nicht, hätte ich sicher denselben Sport nicht noch mal woanders ausprobiert. Das Team um Frank und Claudia Unzicker sowie Dennis Pohl ließ mich schnell spüren, dass ich gut aufgehoben bin. Ich habe mir vorgenommen, niemandem meine wahren Beweggründe für das Training anzuvertrauen, aber durch den sehr respektvollen Umgang und meine Trainingspartner bin ich jetzt sogar bereit darüber zu schreiben.

Die Dankbarkeit wird an mehreren Stellen im Gespräch deutlich. Der Kampfsportschule gegenüber, aber auch dem Arbeitgeber. „Die Firma hat immer zu mir gestanden“, sagt Lars Lietmann und freut sich über so viel Rückhalt. „Wir sind hier eine kleine Gemeinschaft, man lernt sich schnell kennen und geht freundschaftlich miteinander um“, bestätigt Frank Unzicker. Das wird auf dem Platz vor der Kampfsportschule schnell deutlich, wo seine „Schützlinge“ verschiedener Generationen locker miteinander zusammenstehen und plaudern.

Im Kampf gegen Depressionen auf gutem Weg

„Ich hätte nie geglaubt, in nur einem Jahr so eine Verwandlung durchzumachen. Der Mensch im Spiegel sieht deutlich entspannter und fitter aus, als in all den Jahren zuvor. Wenn ich vor dem Training im Spiegel auf meine selbstverursachten Narben schaue, sind diese nur noch wie Schatten aus der Vergangenheit, die nichts mehr mit mir zu tun haben. Und wenn manche beim Lesen dieser Zeilen mir eine Flucht in den Sport vor meinen Problemen attestieren wollen, dann kann ich nur sagen: Na und? Selbst wenn ich im Sport nur das Vergessen suchen sollte, ist es immer noch die beste und gesündeste Flucht von allen.

Um das auch ganz klar deutlich zu machen. Auch beim Kampfsport handelt es sich nicht um ein Allheilmittel. Wenn man mit depressiven Störungen zu kämpfen hat, ist es unbedingt notwendig, sich an ärztliche Fachleute zu wenden. Auch ist Kampfsport kein Ersatz für eine Psychotherapie, aber sie wird nach meiner Erfahrung dadurch perfekt ergänzt. Ich wünschte, ich hätte den Kampfsport eher in mein Leben gelassen, mir wären sicher einige dunkle Stunden erspart geblieben. Depressionen verschwinden nicht über Nacht, auch nicht einfach nach ein paar Jahren Therapie, der Kampf geht weiter. Aber durch den Kampfsport habe ich zum ersten Mal das Gefühl, im Kampf mit der Krankheit nach Punkten vorne zu liegen.“

Die Sonne ist während des Gesprächs immer weiter am Horizont verschwunden, so langsam wird es frischer. Im Alltag von Lars Lietmann aber gibt es nach einem langen Leidensweg immer mehr sonnige Momente.