Mit dieser Ladenschließung stirbt ein Stück Dorfgeschichte

Versmold-Oesterweg. Wie lange es ihren Laden schon gibt, weiß Ilse Ellerbeck gar nicht ganz genau. &bdquo;Schon immer", sagt sie, und Erika Westmeier, die gute Seele des Geschäfts, stimmt ihr zu. Bestimmt 100 Jahre, schätzen die beiden Frauen, vielleicht auch 120. Schon viele Hobbyhistoriker haben nach Dokumenten gefragt, die die Anfänge des Oesterweger Wirtshauses und des Lebensmittelgeschäftes belegen. &bdquo;Wir haben so etwas nie aufgehoben, das war nie wichtig", sagt Ilse Ellerbeck. Und genau in dieser Tradition möchte sie auch eigentlich kein großes Aufheben um das Ende machen. Aber es ist unausweichlich: Am 2. April 2022 schließt der urige Tante-Emma-Laden im Oesterweger Zentrum für immer seine Türen. Und damit wird ein riesiges Kapitel Oesterweger Geschichte endgültig zu Grabe getragen. &bdquo;Die Leute müssen auch hier einkaufen" Schon seit Herbst steht die Entscheidung fest. &bdquo;Viele haben uns schon gesagt, wie traurig sie darüber sind – aber das nützt uns nichts, die Leute müssen auch kommen und hier einkaufen", sagt Erika Westmeier. Wirtschaftlichkeit ist aber nicht der Hauptgrund für die Schließung. Inhaberin Ilse Ellerbeck ist 87 Jahre alt, Erika Westmeier 75. &bdquo;Am 2. April vor 60 Jahren habe ich hier als Verkäuferin angefangen, mein Jubiläum wird nun auch der letzte Tag sein", sagt Erika Westmeier. Wie schwer das allen Beteiligten fällt, lässt sich nur erahnen. Auf die Frage nach dem Abschied fehlen den Frauen die Worte und sie bekommen feuchte Augen. Umso lebhafter erzählt Erika Westmeier von den alten Zeiten. Als es neben dem Laden noch den legendären Saalbetrieb gab und natürlich die Wirtschaft. In den Schankraum direkt neben dem Laden haben Ilse Ellerbeck und Erika Westmeier nun auch zum Gespräch gebeten. Hier sieht vermutlich alles noch so aus, wie im Februar 2007, als der Zapfhahn der Gaststätte für immer zugedreht wurde. Die dunkle Holztheke, die Tische und Bänke und auch die Bierwerbung über dem Tresen wirken, als müsste man morgen nur den Schlüssel umdrehen und der Betrieb läuft wieder wie einst. &bdquo;Samstags standen die Leute hier in Fünferreihen vor der Theke und auch in der Woche war immer etwas los. Wenn der Bus mit den Arbeitern, die aus den Fabriken von Claas und Stockmeyer kamen, an der Haltestelle hielt, dann kamen sie alle auf ein Feierabendbier hier rein", sagt Erika Westmeier. Mit dem Tod von Ilse Ellerbecks Schwester Helga Margenau im Februar 2007, die bis dahin für die Kneipe und den Laden verantwortlich zeichnete, endet auch die Geschichte der Wirtschaft. Ans Aufhören wollte niemand denken Den Laden hat Ilse Ellerbeck seitdem mit ihrem Team – dazu gehören seit 1995 noch Ulla Schickhaus und seit 2018 Marlies Radke – weiter betrieben. Ans Aufhören wollte irgendwie keine der Frauen denken. &bdquo;Es ist einfach so schön hier; wir verstehen uns alle gut, die Kunden sind nett", sagt Erika Westmeier und man sieht ihr die Begeisterung an. Dass sich die Zeiten geändert haben, merken die Frauen aber natürlich auch. Früher kam regelmäßig ein Vertreter vom Großhandel vorbei und man kreuzte auf einer Liste an, was man brauchte. Der Gemüsehändler fuhr mit seinem Wagen vor und die Chefin suchte vor Ort aus, was sie benötigte. Heute setzen auch die Lieferanten auf digitale Kommunikation – da auf der Höhe der Zeit zu bleiben, fällt schwer. &bdquo;Hier ist die Zeit stehengeblieben", sagt Erika Westmeier mit Stolz und erzählt von Zufallskunden, die voller Begeisterung konstatieren, dass das hier ja ein richtiger Tante-Emma-Laden sei – &bdquo;und dann wollen sie mit Karte bezahlen", sagt sie und lacht. Ein Kunde, der genau weiß, was er an Margenau hat, ist Hartwig Bißmeier. Der 85-Jährige steht vor der Ladentheke und gräbt sofort in seinen Erinnerungen. Er erzählt von dem Oesterweger Feuerwehrfahrzeug, das seinen Standort bis in die 1950er-Jahre in Margenaus Scheune hatte. Ebenso wie die Viehwaage, die alle Bauern und Viehhändler des Dorfes nutzten. Von Margenaus Tante Ida, die die großen Bierkrüge füllte, mit denen die Kinder von den Eltern in die Kneipe geschickt wurden, um Bier für den Besuch zu Hause zu holen – &bdquo;in Flaschen gab es das ja damals noch nicht." Von den Bauern, die Brotteig brachten, um in Margenaus Bäckerei daraus Brote für sich backen zu lassen – damit sie nicht verwechselt wurden, wurde der Anfangsbuchstabe des Namens in den Teig geritzt. Der Festsaal hat auch dunkle Zeiten gesehen Und auch von den dunklen Kapiteln erzählt er. Von den polnischen Zwangsarbeitern, die auf den umliegenden Bauernhöfen arbeiten mussten, und von den französischen Kriegsgefangenen, die vom NS-Regime ebenso im großen Festsaal untergebracht wurden. An die Franzosen kann sich Ilse Ellerbeck auch noch gut erinnern. &bdquo;Unser Haus ist damals beschlagnahmt worden und wir wurden ausquartiert auf einen Bauernhof in der Nähe", erzählt sie. &bdquo;Aber wir Kinder haben die Soldaten manchmal besucht und sie haben uns Schokolade gegeben, die sie von zu Hause geschickt bekommen haben." Ein krasser Gegensatz zu den rauschenden Festen, die in Friedenszeiten in den zwei Sälen stattgefunden haben. &bdquo;Freitags die grünen Hochzeiten und montags immer die Silberhochzeiten", erinnert sich Erika Westmeier. Warum montags? &bdquo;Nun, wenn man freitags heiratet, fällt das Hochzeitsdatum 25 Jahre später immer auf einen Montag", erklärt sie lachend. Mit fünf Helferinnen stand Ellerbecks Mutter Martha Margenau dann in der Küche und richtete das kalte Büffet her. &bdquo;Die größte Hochzeit, die wir hatten, waren 168 Leute", sagt Erika Westmeier. Aber auch die legendären Sängerfeste, die großen Versammlungen der Sparda-Bank und die Zusammenkünfte der Oesterweger Vereine, deren Vereinslokal Margenau war – haben sich ins kollektive Oesterweger Gedächtnis eingegraben. Das riesige Gebäude an der Oesterweger Straße war das gesellschaftliche Zentrum des Dorfes. 2005 war damit Schluss. Die eigene Bäckerei, in der viele Jahrzehnte zuvor Ilse Ellerbecks früh verstorbener Vater Wilhelm das Sagen hatte, war schon einige Jahre zuvor stillgelegt worden. Doch die eingerichteten Räume gibt es in dem verwinkelten Gebäude, das immer wieder durch neue Anbauten ergänzt wurde, immer noch: die Konditorei, die Backstube und die große Küche, in der einst die ganze Belegschaft zu Mittag aß. Was aus all dem einmal wird? Darüber haben sich die Frauen bisher noch keine Gedanken gemacht. Und auch an den 2. April wollen sie noch nicht so wirklich denken, sondern lieber die gemeinsamen Arbeitstage genießen – bis dann wirklich endgültig die Ära Margenau in Oesterweg zu Ende geht.

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