
Halle. Die Lichterkette war 15 Meter lang, so dass der kleine Baum auf dem Tisch strahlte wie eine der 10.000-Volt-Tannen in Las Vegas. Aber anstatt den offensichtlichen Fehlkauf umzutauschen, umrandete mein Vater mit der überdimensionierten Weihnachtsdeko kurzerhand auch noch das Fenster. Selbst die für das kleine Wohnzimmer viel zu große Schrankwand bekam noch ein paar leuchtende Meter ab.
Als am Ende noch Kugeln, Strohsterne und Engel an den Zweigen hingen und eine silberne Spindel die Spitze schmückte, war vom Grün nicht mehr allzu viel zu sehen. Und dann kam ja auch noch das Lametta! Immer fein verpackt in langen, bunten Pappschachteln, die es im kleinen Haller Einkaufsladen Fedrowitz in der Adventszeit an der Kasse gab. Anfang der Siebzigerjahre gehörte das einfach an jede Weihnachtstanne. Giftige Bleistoffe? Nie gehört.
Meine Mutter schlug die Hände überm Kopf zusammen, mein Vater lachte sich noch Jahre später kaputt. Und so hockten wir zusammen mit der Verwandtschaft an Heiligabend um den kleinen Tisch herum. Zwischen klarer Suppe und Weihnachtsbraten, Honigkerzen, Geschenkpapier und roten Gesichtern von der Hitze. Und zur Untermalung eine Langspielplatte des Bielefelder Kinderchores.
War es in den 1980er Jahren James Last, der auf dem Plattencover in Smoking und roter Fliege vor einem retouchierten Kaminfeuer stand und unsere Weihnachtsstube mit Heidschi Bumbeidschi, Süßer die Glocken nie klingen oder Stille Nacht, Heilige Nacht erfüllte, war lange Jahre der Bielefelder Kinderchor für Heiligabend gesetzt. Ein entscheidender Grund: Die Tochter von Bekannten gehörte zum Ensemble und war sogar in weißer Bluse, schwarzem Rock und Schleife im Haar auf der Hülle abgebildet, wie sie in der Oetkerhalle steht.
Zum Happy Sound vom fingerschnipsenden James Last die Geschenke ausgepackt
Guck mal, die Kathrin, hieß es jedes Jahr aufs Neue. Das ging so lange so, bis die Platte irgendwann einen Sprung hatte und die Kathrin „Kling, Glöckchen, klingeling“ in Dauerschleife sang. Da blieb das Album dann fortan im Schrank, und für die nächsten Jahre begleitete der weihnachtliche Happy Sound von James Last unser Weihnachtsessen. Und das Auspacken der Geschenke. Die Erinnerungsfotos mit der Agfa-Pocket-Ritsch-Ratsch-Klick-Kamera. Und die Spielerunden. Als die Platte ein paar Wiederholungen hinter sich hatte, war es dann gut. Mein Vater stand auf und schaltete das Gerät ab. „So, jetzt reicht’s ...“, erklärte er kurzerhand. Und suchte nach einem passenden Radiosender.

Die Auswahl an einem Heiligabend war allerdings durchaus eingeschränkt. Auf einem Kanal lief Weihnachtsrock, was meine Mutter empörte. „Also das brauchen wir heute Abend ja wohl nicht!“ Die Alternativen bestanden aus zwei Live-Gottesdiensten mit ausschweifenden Predigten und viel Solo-Sopran. Das wiederum, so argumentierte mein Vater, könne man aber auch nicht am Kopp haben! Während meine Tante meinte, er solle das Radio doch einfach mal ausstellen.
Spiel’ doch mal ein paar Weihnachtslieder auf dem Klavier!
Genau das tat er dann auch. Demonstrativ und dezent bockig. Um dann doch wieder aufzustehen, weil die stille Nacht so still nun auch wieder nicht sein müsse. Das war wiederum der Augenblick, da die Idee aufkam, ich könnte doch ein paar Weihnachtslieder auf dem Klavier spielen! Die Frauen im Raum summten auch mit, unsere Töne trafen sich nicht immer. Und so war die Pause von James Last schneller beendet als gedacht, und das Orchester setzte von vorne ein.
Gucke ich mir heute unseren Baum an, habe ich direkt Loriots nörgelnden Opa Hoppenstedt im Ohr. „Früher war mehr Lametta!“ Nur Strohsterne, Holzfiguren und ein paar rote Kugeln. Und gäbe es von der Sorte Lichterketten noch eine - sie würde der Tanne bestimmt gut zu Gesicht stehen. Es singen weder der Bielefelder Kinderchor, noch schnippt James Last lässig mit den Fingern, während er seine Musiker dirigiert. Aber dafür liegt eine Oma-Katze unterm Baum. Der Familien-Labdrador erlebt sein erstes Fest, und ich verrate Ihnen noch etwas: Auf unserer Baumspitze thront bei aller Schlichtheit seit ein paar Jahren ein bunter Froschkönig aus Filz. Und zumindest meinem Vater würde das, wenn er es noch sehen könnte, sehr gefallen.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wunderschöne Geschenke, bei denen man sich viele Gedanken um Sie gemacht hat. Dass Sie rund um Heiligabend von Menschen umgeben sind, die Sie lieben. Und Dinge an Ihrem Baum hängen, die Sie an jene erinnern, die gerade nicht da sind. Fröhliche Weihnachten!
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