Haller Kultkneipe schließt nach 141 Jahren - der Wirt erklärt warum

Halle-Hörste. Es ist ruhig im Hörster Dorfkern am Donnerstagvormittag. Nur wenige Menschen passieren an diesem wohl letzten warmen Spätsommertag des Jahres die Alte Dorfstraße. Einige von ihnen bleiben vor dem Gerhold's stehen und schauen auf das große weiße Blatt Papier, das in der Eingangstür hängt. "Wir haben den Gaststättenbetrieb eingestellt", steht darauf mit schwarzem Filzstift geschrieben. Eine Nachricht, die in Hörste schnell die Runde macht. Zwar kommt sie nicht überraschend, denn Inhaber Michael Ockert hatte stets auf die Probleme der vergangenen Monate und Jahre hingewiesen und sich selbst eine letzte Frist bis zum Ende des Sommers gesetzt, gleichwohl dürften viele Menschen traurig sein, dass die älteste Kneipe im Ort schließt. Ein Stück Hörste verschwindet von der Bildfläche, allerdings nicht so ganz. "Die vergangenen Monate haben Spuren bei mir hinterlassen. Ich musste mich über so viele Dinge aufregen", sagt Ockert. Seit Monaten leidet das Gerhold's, wie auch die Gastronomielandschaft im Allgemeinen, unter Personalmangel. Zuletzt öffnet Ockert nur noch an zwei Tagen, dabei wären wirtschaftlich gesehen fünf zwingend notwendig. Ockert sucht verzweifelt nach Aushilfen für die Kultkneipe, verspricht weitaus mehr als den Mindestlohn, schaltet Anzeigen und ruft über die Sozialen Netzwerke dazu auf, sich zu bewerben. Nur vier Personen melden sich, alle erweisen sich bei näherer Betrachtung für den Job als nicht geeignet. Das Problem bleibt somit, die schlaflosen Nächte des Gastronomen werden noch zahlreicher. Kurzfristige Erkrankung raubt ihm die letzten Nerven "Ich habe viel nachgedacht und hatte schon länger den Plan C als Alternativlösung zwischen Weitermachen und Aufhören in der Tasche. Ich hätte aber nicht gedacht, dass ich ihn nun so schnell umsetzen muss", sagt Ockert. Bis zuletzt habe er gehofft, dass er das sinkende Schiff wieder auf Kurs bringen könnte. Plan C heißt für ihn, den regulären Gaststättenbetrieb sofort einzustellen und ab sofort nur noch gegen Vorabbestellung für besondere Anlässe wie Geburtstagsfeiern, Familienfrühstücke oder Beerdigungskaffees zu öffnen. Zudem bietet er den Saal für Feiern an. Jeder kann den 200 Quadratmeter großen Raum für 450 Euro mieten, inklusive Musik- und Lichtanlage, Theke, Gläser, Kühlraum und Toiletten. Das durch Rauchverbot, Corona und Inflation schon randvoll gelaufene Fass schwappte letztlich am Sonntag über. "Wir hatten schon die ersten Gäste hier, die auch Essen bestellen wollten, als ich kurzfristig erfuhr, dass meine beiden Köchinnen krank sind und nicht kommen", erklärt Ockert. Also blieb die Küche kalt und für die Gäste gab es nur noch die Getränkekarte. "Die Leute, die ins Gerhold's kommen, wollen zu 98 Prozent auch etwas essen. Das Gerhold's ohne Essen wäre nicht machbar", sagt der 63-Jährige. Alleine könne man das natürlich nicht stemmen. Er sei nun einmal das Gesicht an der Theke, das jede gute Kneipe benötige. Er könne nicht zeitgleich noch das Essen zubereiten, das Geschirr waschen und die Tische bedienen. "Das tust du dir nicht mehr länger an", so sein Entschluss am Sonntagabend. Gemeinsam mit Axel Rönneker hatte er das Gerhold's zunächst als Pächter am 10. November 1989 eröffnet, bis dahin trug der Gastronomiebetrieb den Namen "Gerholds Bauernstuben". Inhaberin Margret Gerhold hatte sich sechs Jahre nach dem Tod ihres Mannes dazu entschlossen, die Gaststätte zu verpachten. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch noch den Tante-Emma-Laden im heutigen linken Teil der Kneipe. Die Geschichte des Hauses reicht jedoch noch viel weiter zurück. Vermutlich gingen 1882 zum ersten Mal Getränke über den Tresen. Später gab es hier auch eine Bäckerei und im Obergeschoss Hörstes erstes und einziges Kino. Goldene Zeiten in den 90er Jahren "In den ersten Jahren hatten wir sieben Tage die Woche geöffnet und gerade am Montag war die Bude rappelvoll", erinnert sich Ockert an die Anfangsjahre, in denen der Zapfhahn praktisch nicht stillstand. Sogar die Küche lief bis um 1 Uhr auf Hochtouren und die Gäste freuten sich sogar noch, wenn für sie mangels freier Plätze noch schnell ein Tisch direkt neben der Toilettentür aufgestellt wurde. Es gab Livemusik, leicht bekleidete Frauen tanzten in Käfigen, und das Bier floss in Strömen. Es waren andere Zeiten, bessere Zeiten, wenn man die heute übliche politische Korrektheit mal kurz vergisst. Es waren auf jeden Fall Zeiten, in denen aus wirtschaftlicher Sicht für die Kultkneipe auf dem 8.000 Quadratmeter großen Grundstück alles optimal lief. Schon länger hat Ockert darüber nachgedacht, wie es weitergehen könnte. In wenigen Wochen wird er 64, eigentlich ein Alter, in dem man langsam einen Gang zurückschaltet. "Natürlich habe ich auch mit Freizeit kein Problem, aber ich arbeite immer noch gerne", sagt Ockert. Aber ist es das alles wert, wenn Familie und Gesundheit unter den täglichen Sorgen leiden? Diese Frage stellt er sich permanent. Verkauf wäre auch eine Option, allerdings eine schmerzhafte Tief im Hinterkopf denkt er auch über einen Verkauf der Immobilie samt Grundstück nach, die seit einigen Jahren ihm und seinem früheren Geschäftspartner Axel Rönneker gehört, der 2013 ausstieg und seitdem als Fluglehrer im Emsland arbeitet. "Das ist ein riesiges Grundstück mit vier Bauplätzen. Wenn ein Investor kommt, mir viel Geld gibt und hier Wohnungen baut, werde ich vermutlich schwach", sagt Ockert. Er weiß allerdings, dass die Zeiten dafür nicht optimal sind. Gleichwohl würde es ihn zerreißen. "Das Gerhold's ist mein Kind. Ich kann mich nicht davon trennen", gibt der Gastronom zu. Eine Leidenschaft, die auch Corona nicht brechen konnte. Zumindest nicht bei ihm, gleichwohl aber bei Teilen des Personals. "Die Gastronomie war sieben Monate lang geschlossen. Ich kann verstehen, dass man sich da nach anderen Jobs umgeschaut hat", sagt Ockert, der mit seiner Familie in Bockhorst lebt. Manch einer habe dann eine Tätigkeit mit freien Wochenenden und Arbeitsende am Nachmittag gefunden, diejenigen seien auch nicht mehr in die Gastronomie zurückgekehrt. "Das Internet hat ebenfalls viel kaputt gemacht. Heute trifft man sich bei Tinder, früher lernte man andere Menschen in der Kneipe kennen", sagt der gebürtige Haller. Zudem ist man mobiler, informierter, und es gibt heute eine viel größere Auswahl an Restaurants. Vor 40 Jahren gab es die gutbürgerliche Küche und einen Italiener in der größeren Nachbarstadt. Heute kann man sich wenige Autominuten entfernt in Gütersloh, Osnabrück oder Bielefeld kulinarisch gesehen durch die ganze Welt futtern. Und wer zuhause auf dem gemütlichen Sofa bleibt, dem versüßen Lieferando oder 63 verschiedene Sorten von Tiefkühlpizzen und Netflix den Feierabend. Flohmarkt für Nostalgiker "Wir machen ja weiter, aber anders", sagt Ockert. Die immer wieder wechselnden Öffnungszeiten hätten auch die Besucher verunsichert. Man wusste nie, ob diese Woche am Samstag geöffnet ist oder ob es nur freitags und sonntags. Nun aber wird er mögliche Öffnungstage rechtzeitig bekannt geben, denn das Gerhold's soll in seiner gewohnten Form weiterleben, wenn auch nur noch an einigen Tagen im Jahr. "Wir werden zum Christkindlmarkt, Volksfest oder Hörster Bummel ganz normal öffnen", sagt Ockert. Und wenn es dann super läuft? Gibt es vielleicht dann doch noch einmal eine Rückkehr zum regelmäßigen Betrieb? "Möglich wäre es, aber damit rechne ich nicht", sagt Ockert. "Mir ist schon eine kleine Last mit dieser Entscheidung abgefallen. Mit dem neuen Modell kann ich besser kalkulieren und es reibt mich nicht mehr so auf", erklärt er und denkt dabei auch an seine eigene Gesundheit. Er hofft, dass er mit dem neuen Modell Erfolg hat. Gleichwohl weiß er, dass es erst einmal anlaufen muss. Frühestens zum Jahresende werde er eine erste Bilanz ziehen. Vor der großen Geburtstagsfeier am 11. November anlässlich des 34-jährigen Bestehens öffnet Ockert nach den Betriebsferien in den beiden Schulherbstferienwochen noch seine gastronomische Schatzkiste. "Am 28. und 29. Oktober wird es von 10 bis 18 Uhr einen Flohmarkt geben. Ich räume den Keller leer und biete alles aus dem Gerhold's-Fundus an", erklärt Ockert. Ob alte Werbetafeln, Möbel oder schöne Gläser - manch einer dürfte sich beim Anblick an alte Zeiten erinnern und hat die Chance, sein ganz persönliches Erinnerungsstück mit nach Hause zu nehmen. Die ersten Verkaufsstücke hat Michael Ockert bereits nach oben geschleppt und direkt nebenan, in den Schaufenstern der früheren Sparkassenfiliale platziert.

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