Spontane Fahrt nach Berlin: Haller holt ukrainische Familie ab

Halle/Berlin. Auf dem Hinweg aus dem Auto heraus nimmt Andreas Fichtner das erste Mal Kontakt zum Haller Kreisblatt auf. Da befindet er sich knapp zwei Stunden Fahrzeit von der Bundeshauptstadt entfernt – nicht wissend, was ihn in Berlin erwarten wird und ob seine spontane Aktion überhaupt sinnvoll ist. Am späten Abend schickt der Haller eine letzte Sprachnachricht des Tages an die Redaktion. &bdquo;Ich bin happy", sagt er. Kurz zuvor hat Andreas Fichtner eine vierköpfige Familie zu einem Ehepaar aus Künsebeck gebracht, das sich kurzfristig bereiterklärte, eine Übernachtungsmöglichkeit zu geben. Ob die ukrainische Familie dort bleiben wird oder ob man, aufgrund des dann kürzeren Schulwegs für die Kinder, lieber zu einer anderen Familie im Stadtzentrum wechselt, die ebenfalls Wohnraum zur Verfügung stellen möchte, wird sich in den kommenden Tagen entscheiden. Lesen Sie auch: Vier Schulen - eine Botschaft: 2.200 Schüler demonstrieren für den Frieden Hinter dem Haller liegt jedenfalls ein Tag, den er nicht vergessen wird. Schon die ganze Woche über habe er Unruhe verspürt und den Drang, irgendetwas tun zu müssen. &bdquo;Die Menschen tun mir einfach leid", sagt er angesichts der Bilder und Nachrichten aus der Ukraine. Viele Menschen sind über Polen weiter nach Deutschland geflüchtet und kommen in diesen Tagen am Berliner Hauptbahnhof an. Genau dieser ist das Ziel von Andreas Fichtner, als er sich am freien Wochenende ins Auto setzt. Mit seinem Arbeitgeber klärt er, dass er den Dienstwagen nutzen darf. &bdquo;Ich gebe meine Zeit und mein Herz", sagt er. Vier Personen könnte Fichtner mit nach Halle nehmen; über einen Aufruf bei Facebook hat er spontan die erste Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Vier Tage lang mit drei Kindern auf der Flucht 400 Kilometer Hinweg, 400 Kilometer Rückweg nimmt er in Kauf. Um kurz nach 18 Uhr meldet sich Andreas Fichtner erneut aus dem Auto heraus: &bdquo;Ich habe es geschafft." Im Hintergrund sind Stimmen zu hören. Mit ihm im Auto sitzen eine Frau und ihre drei Kinder. Zwei Jungs und ein Mädchen: 17, 13 und 8 Jahre alt. Der Vater ist in der Heimat geblieben, wie so viele Männer, um ihr Land gegen die russischen Angreifer zu verteidigen. Seit vier Tagen sei die Familie auf der Flucht, erfährt Andreas Fichtner, der sich auf Englisch und einigen Worten Russisch sowie mit Hilfe des Google-Übersetzers mit seinen Mitfahrern verständigt. Die vier kämen aus der West-Ukraine, ein Familienangehöriger wohne am Rand von Kiew und habe einen Bombenangriff nicht überlebt, wird dem Haller erzählt. &bdquo;Die Familie ist sehr verängstigt." Und sie ist völlig geschafft von den Strapazen der Flucht. Am Abend kommen sie erschöpft in Künsebeck an und fallen müde ins Bett. Andreas Fichtner ist am Montag schon wieder früh auf den Beinen. Er muss arbeiten, das Ehepaar aus Künsebeck kümmert sich zunächst um die Geflüchteten. Da aber noch unklar ist, wo die Familie wirklich wohnen wird, verschiebt die Stadt Halle die Anmeldemodalitäten auf den Dienstag. Beeindruckt von dem Engagement vieler Freiwilliger Das, was Fichtner am Berliner Hauptbahnhof erlebt hat, hat den Helfer sehr berührt. Die Straßen voll mit Bussen, die Bahnhofshalle voll mit Menschen. &bdquo;Das kann man sich nicht vorstellen." Der Haller fragt sich an Ort und Stelle durch, nimmt Kontakt zu Helfern auf. Man fertigt ihm ein Papierschild auf Russisch und Englisch, auf dem das Ziel Bielefeld und die Personenzahl steht, die mitgenommen werden kann. Andreas Fichtner hält es hoch. Es dauert nicht lange, da wird er angesprochen. Die Familie ist eigentlich mit anderen Verwandten geflohen, trennt sich dann aber. &bdquo;Sie waren einfach nur froh, dass sie wegkonnten." Die Versorgung und Organisation am Berliner Bahnhof, so der Eindruck von Andreas Fichtner, wird größtenteils von Freiwilligen geschultert. Das hat ihn beeindruckt. Für den Haller steht fest: &bdquo;Ich fahre noch mal hin." Inzwischen hat er weitere Übernachtungsangebote erhalten – und viel Zuspruch. Andreas Fichtner hat sich früher in der Freiwilligen Feuerwehr ehrenamtlich engagiert und kümmert sich in seiner Trommelschule unter anderem um gesundheitlich eingeschränkte Kinder. &bdquo;Der Mensch liegt mir einfach am Herzen", sagt er zu seiner Motivation. Stadt rät zu vorheriger Absprache Dennoch sind solche Aktionen auch durchaus kritisch zu sehen. Darauf weist die Stadt Halle in diesem Zusammenhang hin. &bdquo;Einzelaktionen sind dann sinnvoll, wenn Bürgerinnen und Bürger Freunde, Bekannte oder Verwandte zu sich holen, und diese auch wirklich über einen längeren Zeitraum gut unterbringen und versorgen können", sagt Sprecher Timo Klack. In solchen Fällen begrüße die Stadt eine Initiative, da sie unmittelbar für Entlastung sorgt. Damit die ukrainischen Flüchtlinge auch direkt Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten können, sei eine vorherige Absprache mit der Stadtverwaltung ratsam, damit entsprechende Datenweitergaben erfolgen können. &bdquo;Unbedingt abzuraten ist von selbst initiierten Rettungsaktionen, bei denen nicht geklärt ist, wo und wie die Geflüchteten untergebracht werden. Solche Aktionen sind kontraproduktiv, da sie den Menschen ohne die nötigen formellen Schritte nicht wirklich helfen und unnötig Ressourcen binden", sagt Klack. Derzeit befinden sich schon einige ukrainische Flüchtlinge in Halle, die bei Bekannten oder Verwandten leben. &bdquo;Wie viele es genau sind, wird derzeit ermittelt. Offiziell angekündigt wurden uns noch keine", sagt Klack. Es seien verschiedene Angebote eingegangen, in denen Bürger kostenlos Zimmer zur Verfügung stellen oder diese zur Vermietung der Stadt anbieten. Wie viele Flüchtlinge in den kommenden Wochen zu erwarten sind, könne man nicht seriös sagen. &bdquo;Die Stadt bereitet sich auf zahlreiche Geflüchtete vor.

Meistgelesen

Zeitzeugen gesucht: Vergessener Haller Jude überlebte den Holocaust

Events in Halle 2025: Bis September fast jedes Wochenende mit Veranstaltung

Minigolf in Halle trotz Sanierung: So steht es um baufällige Freizeitanlage

Dauerbaustelle: Sanierte Straße in Halle darf nicht befahren werden

Analyse zur Wahl in Halle: Erdrutschsieg der CDU und kleine Erfolge der Konkurrenz Die CDU ist klarer Sieger der Kommunalwahl. Bürgermeister Thomas Tappe erzielt 60 Prozent und die Christdemokraten holen 17 der 19 Wahlbezirke direkt. Dennoch können auch SPD und Grüne feiern.

Kuriose Wahlergebnisse im Altkreis Halle: Polizei sieht keine Anzeichen für Cyberangriff Der IT-Dienstleister spricht...