
Halle-Hesseln. Sie kündigte ihren Job, ließ Familie und Freunde Tausende von Kilometern hinter sich und reiste alleine quer durch Indien. Wenn Brygida Cyra erzählt, was sie in den vergangenen 20 Jahren erlebt hat, staunen viele nicht schlecht. „Wow", heiße es oft, berichtet die Hesselnerin. Für sie fühlt sich das Leben in Indien gar nicht so ungewöhnlich an. Trotzdem ist es ein Lebensabschnitt, der sie viel gelehrt hat: Erfahrungen, die sie jetzt in den Altkreis bringt. „Ich glaube, es gibt hier einen großen Bedarf."
„All meineTräume sind dort wahrgeworden"
Wenn sie in Deutschland über Indien spreche, spürt sie Neugier und das Bedürfnis, sich mehr zu öffnen – hin zur Spiritualität. „Auch wenn der Begriff hier oft missverstanden wird." Das fange schon beim Yoga an. Oftmals werde Yoga abgelehnt – aufgrund falscher Vorstellungen und der Erwartungshaltung, den „artistischen Übungen" nicht gerecht werden zu können. Doch jeder könne einen Zugang dazu finden, da es eben nicht um sportliche Leistungen gehe. „Yoga bedeutet, Körper, Geist und Seele zu verbinden. Es ist egal, womit man startet. Alles hängt zusammen. Es geht darum, die innere Balance wiederherzustellen."
Erkenntnisse, die Cyra bereits beruflich angewendet hat. Nachdem sie das Land alleine durchquert hatte, erfüllte sie sich ihren Traum von einem Haus am Meer und gründete damit ihr eigenes Business: ein Bed & Breakfast mit Yoga-Auszeiten. Mit ihrer eigenen Yogalehrer-Ausbildung schuf sie sich eine Grundlage, um Reisen für Blinde anzubieten. „All meine Träume sind dort wahr geworden. Ein Business, ein indischer Partner, das Haus, in dem ich etwas für andere Leute tun konnte ...", zählt sie auf. „Und ich hatte die Chance, spirituelle Menschen zu treffen." Viermal sei sie dem Dalai Lama begegnet.
Das Fernweh schlummerte schon früh in ihr
Warum die Wahl auf Indien fiel, kann Cyra bis heute nicht so richtig erklären – „aber es ist für mich ein Geschenk Gottes, dass ich diese weite Reise machen konnte." Sie erinnert sich, dass das Fernweh schon früh in ihr schlummerte. „Ich habe mich schon als Kind sehr für Menschen interessiert, die woanders herkamen. Toleranz war mir wichtig. Diskriminierung habe ich nicht verstanden."
Für ihre Reise kündigte Cyra nach zwölf Jahren ihre feste Stelle bei der Bertelsmann-Stiftung: „Ich entschied mich sozusagen für die Unsicherheit. Anders wiederum heißt es im Spirituellen oft, dass Sicherheit eine Illusion ist." In Indien angekommen habe sie gespürt, dass es „Fügung" war. „Als ich am Flughafen zum ersten Mal indischen Boden betreten habe, dachte ich: Du bist zu Hause!" Mittlerweile weiß sie, dass viele so empfinden, wenn sie dort ankommen. „Indien ist ein Kraftort."
Rückblickend stellt die 53-Jährige fest: „Man wird selbstbewusster, wenn man einen mutigen Schritt gemacht hat. Aber so einen Schritt kann man auch hier machen – dafür muss man nicht nach Indien." Sie beobachte immer wieder Menschen, die zusammenbrechen, wenn sie ihre Arbeitssituation gravierend verändern – „weil sie sich mit ihrem Job identifizieren – aber nicht mit ihrem wahren Sein. Nichts auf dieser Welt gehört uns ewig. Nicht einmal unser Körper. Wenn man das erkennt, kann man alles, was auf einen zukommt, meistern." Es gehe darum, zu erkennen, was Leben eigentlich bedeutet.
"Wir haben hier einen hohen Lebensstandard"
Mit dem Sprung in die fremde Kultur lernte Cyra viel über ihre eigene: „Mit der Distanz kommt ein Bewusstsein auf, dass wir in unserer Region einen sehr hohen Lebensstandard haben. Das wird uns hier oft nicht bewusst, weil wir damit aufgewachsen sind."
Sie wolle nicht behaupten, dass es an nichts fehle: „Aber beispielsweise das sozialstaatliche System, das uns absichert, das gibt es in Indien nicht. Trotzdem habe ich ganz viel Freude und Zuversicht in den Augen der Menschen gesehen. Das hat mich geprägt und ich habe gespürt, dass ich viel mehr für andere machen möchte."
Dabei gehe es nicht um Materielles, sondern um die innere Haltung. „Ich fänd es schön, wenn wir Menschen wieder ein Bewusstsein dafür bekämen, uns selbst zu vertrauen, was wir alles erreichen können. Nicht nur mit Disziplin und harter Arbeit, sondern auch mit einer Leichtigkeit. Das würde ich hier gerne anderen weitergeben."
„Ich fühle mich in Halle herzlich empfangen"
Denn vor Cyra liegt nun ein neuer Lebensabschnitt. Ihr Business in Indien hat sie vor dem Neuanfang im Altkreis abgegeben. Eine Entscheidung aus familiären Gründen – aber natürlich spiele Corona auch eine Rolle. „Ich hätte bleiben und mich sicher fühlen können." In der Gegend, in der sie gelebt hat, gebe es die besten Krankenhäuser und Ärzte des Landes. „In Kerala hat das Regime schnell gehandelt und einen Lockdown eingeführt – Indien ist krisenerprobt." Doch Cyras Flug für einen Familienbesuch war schon vor Krisenbeginn geplant. Nun kehrt sie längerfristig zurück. „Es ist schön, wieder in Halle zu sein." Sie fühle sich herzlich empfangen.
Mit im Gepäck hat die Hallerin Wissen über Meditation, Pranayama (Atemübungen), Yoga, Shiatsu ... Wie genau sie ihre Kenntnisse weitergeben will, daran feilt die Rückkehrerin noch. Vielleicht mit Coachings und Beratungen – selbstständig oder in Kooperation mit der Borgholzhausener Energiestation, die in den Räumen der Gleisklänge momentan eingerichtet wird (wir berichteten).
„Vielleicht spezialisiere ich mich aber auch auf Menschen, die sich nicht trauen, mit Yoga in einer Gruppe zu beginnen. Oder auf Menschen mit Behinderungen." Obwohl sie nicht der Typ für langfristige Pläne sei, könne sie sich vorstellen, das in den nächsten Jahren zu machen. Doch wer weiß – schließlich ist Sicherheit eine Illusion.