Der Adventskalender, der Blinde begeistert, kommt aus Borgholzhausen

Borgholzhausen. &bdquo;Sie müssen Ihren Mittel- oder Ihren Zeigefinger nehmen. Die haben die größte Lesefläche“, fordert Jürgen Kampmann auf. Ich sitze mit geschlossenen Augen vor einem Bistro-Tisch. Auf diesem liegt ein rechteckiger Karton - ungefähr in DIN-A4-Größe. Dieser ist auf der Vorderseite bedruckt mit der sogenannten Brailleschrift - der Blindenschrift. Jürgen Kampmann hat auf den Karton die Zahlen 1 bis 24 prägen lassen. Die Ziffern sind als &bdquo;Hausnummern“ für die 24 darunter liegenden Türchen gedacht. Dahinter verstecken sich 24 Schoko-Leckereien. So wie es sich für einen ordentlichen Adventskalender gehört. Jeder Sehende sucht die jeweilige Nummer und öffnet ein Türchen. Ohne Probleme. Und völlig selbstverständlich. Jeder Blinde hingegen kann mit einem herkömmlichen Adventskalender rein gar nichts anfangen, weil ihm die Massenprodukte der Weihnachtsindustrie keinerlei Hilfen an die Hand geben, zu erkennen, an welcher Stelle man ein Türchen öffnen kann. 2012 erfinden die Kampmanns den Adventskalender in Brailleschrift Allerdings: Seit genau zwölf Jahren gibt es Abhilfe. Das Ehepaar Eveline und Jürgen Kampmann aus Borgholzhausen kam durch einen Zufall und dank ihres großen Unternehmergeistes auf die Idee, einen Adventskalender für Blinde zu erfinden. Seitdem haben Nicht-Sehende einen barrierefreien Zugang zu diesem süßen Vorweihnachtsutensil. Aktuelle News bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal des HK Wenn Jürgen Kampmann über seinen Adventskalender spricht, dann strahlt er. Seine Augen sind weit geöffnet, seine Mundwinkel gestrafft. Ein Lächeln zaubert sich in sein Gesicht. Kampmann spricht bei der Erfindung des Adventskalenders in Blindenschrift von &bdquo;unserer ganz persönlichen Herzensangelegenheit“. Seine Frau nickt zustimmend mit dem Kopf. Seit 2012 sind die Kampmanns die Einzigen in Deutschland, die einen blindentauglichen Adventskalender jährlich im Angebot haben. &bdquo;Und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern“, betont Eveline Kampmann. Das ist insofern besonders, als die Kampmanns auf ein langes Berufsleben zurückblicken und ihre Firma, die Stickerei Kampmann International, aus Altersgründen schon vor einiger Zeit abgewickelt haben. Pilotprojekt mit Stickereien in Blindenschrift Die Rentner müssten den Verkauf ihres Adventskalenders nicht weiter fortführen, doch sie wollen es. Unbedingt. &bdquo;Das ist uns wichtig“, bestätigt der 67-jährige Jürgen Kampmann. Dabei geht es den beiden keineswegs um die Einnahmen, sondern lediglich um die Sache an sich. Jürgen Kampmann beschreibt es mit einem eindrücklichen Bild: &bdquo;Sie werden es im Supermarkt an der Kasse nicht erleben, dass ein Kunde die Verkäuferin in den Arm nimmt, weil er sich für den schönen Adventskalender bedanken will. Aber genau das geschieht bei uns regelmäßig. Für uns sind das dann vorgezogene Weihnachten.“ Die Erfindung des Adventskalenders mit Brailleschrift resultiert aus einem Aha-Erlebnis. &bdquo;Wir waren mit unserer Stickerei 2011 in einem Pilotprojekt“, erzählt Jürgen Kampmann: &bdquo;Wir hatten den Auftrag, Sweatshirts und Handtücher mit Blindenschrift zu besticken.“ Zum Realitätscheck in der Opticus-Schule in Bielefeld Mit den ersten Proben wurde Jürgen Kampmann in der Opticus-Schule in Bielefeld vorstellig. Zum Realitätscheck. Die Kinder mit Sehbinderungen und völliger Blindheit sollten die Produkte auf Herz und Nieren prüfen. Anfangs hieß es schon mal: &bdquo;Das geht ja gar nicht.“ Oder: &bdquo;Das muss besser werden“. Bei der finalen Abnahme dann jedoch der Aha-Moment: &bdquo;Da steht ja mein Name drauf“, sagte eine Schülerin: &bdquo;Ich kann das lesen.“ Eine zweite ergänzte: &bdquo;Ich auch.“ Zum Thema: Firma aus Borgholzhausen ist insolvent, dabei existiert sie gar nicht mehr Jürgen Kampmanns Reaktion war hoch emotional: &bdquo;Ich hatte sofort Wasser in den Augen. Mir kamen die Tränen.“ Neben den überwältigenden Reaktionen der Kinder berührte Kampmann auch die Vollendung eines hochkomplexen Fertigungsprozesses, der in Deutschland seinesgleichen sucht. &bdquo;Die Brailleschrift auf Textilien zu drucken, ist handwerklich eine Wissenschaft für sich“, so der Unternehmer. Für die gute Zusammenarbeit wollte sich Kampmann damals bei den Kindern der Opticus-Schule mit einem Adventskalender bedanken, &bdquo;ein kleines Geschenk, das in die Jahreszeit passte“. Doch zu seiner Verwunderung hörte er, dass es einen blindentauglichen Adventskalender gar nicht gibt. Pioniergeist aus Borgholzhausen Jürgen Kampmann war perplex: &bdquo;Das kann ja wohl nicht sein.“ Er erfuhr, dass sich die Kinder in der Blindenschule in der Vorweihnachtszeit mit Filzsäckchen behelfen. Zudem ist jedes Säckchen mit einem Ornament oder einer Zahl versehen, damit man die Nummerierung ertasten kann. Beides aufgeklebt und auch aus Filz. Türchen an einem Adventskalender hatte bisher keines der Kinder geöffnet. &bdquo;Als ich das hörte, war ich knurrig“, sagt Jürgen Kampmann: &bdquo;Und da der Ostwestfale ein bisschen stur ist, haben wir alles in Bewegung gesetzt, um so einen Kalender auch für Blinde zu realisieren.“ Sein Pioniergeist war geweckt. &bdquo;Wer Textilien mit Blindenschrift besticken kann, kann auch Adventskalender mit Brailleschrift produzieren“, so der Unternehmer: &bdquo;Wir waren von der Idee absolut begeistert. Wir wollten das unbedingt machen, um die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Die Kosten waren uns dabei egal.“ Kampmann erinnerte sich an eine Technik, die bereits benutzt wird, um Schachteln für Arzneimittel zu bedrucken. Er trieb einen Kartonagen-Hersteller auf, orderte sogenannte &bdquo;Tiefziehteile“, in die die Schokolade gegossen wird (&bdquo;Gute Schokolade von Gubor, wirklich leckeres Zeug“, Kampmann), und ließ für rund 4.000 Euro ein extra entworfenes Prägewerkzeug herstellen. Bestellungen erfolgen in der Regel online Über das Motiv und das Design der Vorderseite entschied und entscheidet stets der Familienrat. Zur Premiere in 2012 grüßte Rudolph, das Rentier mit der roten Nase. Äußerst beliebt war 2020 das Polarlicht-Motiv. Zum Zehnjährigen riefen die Kampmanns ihre Kunden auf, Ideen für ein neues Cover zu schicken. Am Ende gewann eine eigens kreierte Wintercollage. Den aktuellen Kalender, der in diesen Tagen fertiggestellt wird, ziert ein verschneites Dorfidyll. Nach der Teil-Fertigung an verschiedenen Orten landen die kompletten Adventskalender schließlich bei den Kampmanns in Borgholzhausen. &bdquo;Ich verpacke die mehrheitlich einzeln und verschicke sie anschließend“, sagt Eveline Kampmann: &bdquo;Damit steigt bei uns schon im November die Vorfreude auf die Adventszeit.“ Die Bestellung erfolgt in der Regel online, ein stationärer Verkauf lohnt sich nicht. Ende August werden die Stammkunden informiert. Blindenschulen und Vereine, aber auch viele Privatleute. Die Mehrheit per Mail, manche aber auch telefonisch. Zudem gibt es Nachrichten auf der eigens installierten Facebook-Seite und der Homepage (www.braille-adventskalender.de). 800 bis 2.500 Abnehmer jährlich Zwischen 800 und 2.500 Exemplare finden jährlich ihre Abnehmer. In Deutschland, Österreich und der Schweiz. In einem Jahr gab es sogar einen Händler in den USA, der eine große Tranche orderte. &bdquo;Für nicht einmal zehn Euro pro Kalender unterstützen wir den Lebensalltag der Nichtsehenden und bringen ein bisschen Lebensfreude ins Haus“, wirbt Jürgen Kampmann. Zurück zum Anfang: Vor mir liegt immer noch der Adventskalender. Ich habe - wie empfohlen - meinen Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt und gleite über den Karton. Ich spüre kleine Erhebungen, erahne Punkte. Doch sinnstiftend zusammensetzen, geschweige denn Ziffern daraus ablesen, kann ich nicht. Ich öffne die Augen und bewundere ein Produkt, das eine ganz besondere Magie ausstrahlt.

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