
Haben wir das geschafft? Oder sind wir eher geschafft - zehn Jahre nach der Flüchtlingskrise, als binnen weniger Monate Hunderttausende Asylsuchende und Migranten zu uns strömten? Noch immer diskutiert Deutschland entlang jenes Satzes von Angela Merkel, den die Kanzlerin damals als Motto vorgeben wollte: Wir schaffen das.
Merkel ging es um die Bewältigung des historischen Zuzugs, um die humanitäre Verantwortung eines der reichsten Länder der Welt - aber auch um die Chancen dieser Einwanderung. Und dass deshalb überwunden werden müsse, was im Weg steht. Ist das heute, zehn Jahre später, gelungen?
Die Debatte ist komplexer geworden, vielschichtiger, nur leider nicht versöhnlicher. Das macht viele Antworten auf die Frage unbrauchbar. Im Grunde ist sie schon falsch gestellt: Geschafft oder gescheitert, ja oder nein, schwarz oder weiß – wer ein so komplexes Thema auf eine binäre Entscheidung verkürzt, macht es (sich) zu einfach. Oder hat ganz eigene Motive.
Hätte Merkel anders gehandelt, würde heute anders diskutiert
Denn was heißt das schon, „geschafft“? Die Flüchtlingskrise brachte Probleme und Ängste, Zumutungen und Streit - wie vor ihr Wiedervereinigung und Eurokrise und nach ihr Corona und Ukrainekrieg. Haben wir all das denn geschafft? Haben wir die Pandemie perfekt gemeistert, weil wir sie überlebt haben? Oder sind wir an Corona gescheitert, weil auch Fehler begangen wurden? Beides ist ja richtig - und damit nichts von beidem.
Die wenigsten würden die Deutsche Einheit für gescheitert erklären. Aber noch weniger sagen wohl, der Prozess sei ohne Fehler und Schmerzen verlaufen. Einigkeit herrscht nicht einmal darüber, dass das vereinte Deutschland ein besseres Land ist als die Bundesrepublik-West bis 1990.
So ist das mit den Verwerfungen der Weltgeschichte: Sie kommen überraschend, die Politik muss reagieren, es gibt Chancen, Alternativen, Fehler, Erfolge, und am Ende ist das Land ein anderes. Dass eine einzelne Kanzlerin die Macht hätte, die Zeitläufte aufzuhalten, ist eine Fiktion. Hätte Merkel anders gehandelt, würden wir heute über einen anderen Satz diskutieren. Aber die Option, dass Deutschland noch so wäre wie früher, ist Fantasie. Zumal es nie ein Deutschland ohne Einwanderung gab, nicht vor den Hugenotten und nicht nach den Polen im Ruhrgebiet. Es sind Fiktionen und Fantasien der Populisten, die damit weltweit Wahlen gewinnen: „Deutschland, aber normal“. „Make America great again.“ „Arbeit, Heim, Familie.“
Einige Menschen schimpften über Merkels Appell
Es stimmt, dass die Rechtsradikalen erst seit 2015 zur Bedrohung anwuchsen. Aber Donald Trump und Viktor Orban brauchten keine Flüchtlingskrise in ihren Ländern, um dort die Demokratie zu schleifen.
Ein anderer zentraler Satz von 2015 stammt vom damaligen Bundespräsidenten Gauck: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Das war konsensfähiger als Merkels Ausspruch, denn es war eine Beschreibung der Lage. Merkel hat dagegen nie BEHAUPTET, „wir“ schaffen „das“. Sondern sie hat dazu aufgerufen, darum geworben, diese Aufgabe - die sie klar als außergewöhnlich und riesig markierte - mit Optimismus anzugehen: „Deutschland ist ein starkes Land“, hieß der ganze Satz, „und das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!“
Es war ein Appell, eine Einladung. Viele haben sie angenommen. Andere schimpften sofort: „Wir wollen das gar nicht schaffen!“ Auch das gehört zur Wahrheit: Wie begrenzt die Möglichkeiten sind, hängt auch davon ab, wie offen die Herzen wirklich waren.
Anteil der Arbeitstätigen Eingewanderten steigt
„Die Zahlen zeigen ja, dass wir es offensichtlich nicht geschafft haben“, beantwortete Friedrich Merz zum Beispiel gerade die Frage nach Schaffen oder Scheitern. Dabei zeigen die Zahlen auch, dass der Anteil der Arbeitstätigen unter den vor zehn Jahren Eingewanderten inzwischen fast so hoch wie an der Gesamtbevölkerung. Ja, das war und bleibt ein Kraftakt. Aber einer, der sich lohnt, wenn man auf den Personalmangel von Handwerk bis Pflege blickt.
Integration misslingt und glückt. Das Scheitern, wo es auftrat, klar zu benennen, gehört ebenso zur ehrlichen Bestandsaufnahme wie der Blick auf die Erfolge.
Freilich wurden seit 2015 viele Fehler begangen. Zum Beispiel durch die Medien, die Skepsis, Überforderungsängste und Schattenseiten erst verspätet und nicht in dem Maße abbildeten, wie viele Deutsche sie empfanden. Aber auch durch Bund, Länder, Kommunen- und natürlich auch durch Geflüchtete. Es gab Morde und Übergriffe durch Flüchtlinge. Es gibt unter ihnen Frauenfeinde, Homophobe, Antisemiten, Intoleranz. Womöglich mehr als unter den Deutschen insgesamt.
Krise muss gemeinsam angegangen werden
Die Krise war, wie später Corona, ein Brennglas, das bestehende Probleme vergrößerte - vom Wohnraum bis zum Bildungssystem. So sind die Herausforderungen in den letzten zehn Jahren insgesamt gewachsen, keine Frage. Umso mehr kommt jetzt auf den gemeinsamen Willen an, sie gemeinsam anzugehen.