Immer erst zum Hausarzt: Politik fordert System, das in OWL längst Alltag ist

Bielefeld/Berlin. Bevor Patienten einen Facharzt aufsuchen, sollen sie zum Hausarzt. So stellt sich die Bundesregierung die Zukunft der Versorgung von gesetzlich Krankenversicherten vor. Union und SPD wollen Patienten mit dem Primärarztsystem besser steuern. Mit dem Hausarztmodell gibt es bereits ein Primärarztsystem in Deutschland. Das ist bislang freiwillig, zählt aber trotzdem schon zehn Millionen Patienten. In der Region ist das Modell besonders beliebt und hat gerade die Marke von einer Million Patienten durchbrochen. Ziel der Bundesregierung ist, mit einer verbesserten Patientensteuerung Kosten zu sparen, Ressourcen von Ärzten effizienter zu nutzen, Wartezeiten auf Facharzttermine für Kassenpatienten zu verkürzen und unnötige Behandlungen zu reduzieren. All das leiste bereits heute das Hausarztmodell, sagt der Vorsitzende des Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe, Lars Rettstadt. &bdquo;Das belegt das steigende Interesse von Ärzten und Patienten.“ Für das Modell schließen die Krankenkassen mit den Hausärzteverbänden Verträge. Nehmen Patienten an dem Modell teil, verpflichten sie sich gegenüber ihrem Versicherer dazu, immer zunächst den Hausarzt aufzusuchen und Fachärzte nur mit einer Überweisung in Anspruch zu nehmen. Ausnahmen sind Termine bei Gynäkologen und Augenärzten. Hausärzte erhalten für Patienten im Hausarztmodell mehr Geld Nach Angaben Rettstadts verbessert das Modell so die Patientenversorgung. &bdquo;Der Hausarzt koordiniert bei Bedarf auch die fachärztliche Versorgung, sodass die Patienten nicht mehr alleine dastehen und Termine bei Fachärzten finden müssen.“ Zudem erhielten Hausärzte für Patienten im Hausarztmodell mehr Geld. &bdquo;Im Durchschnitt etwa 30 bis 40 Euro mehr pro Patient pro Quartal. Außerdem spart das Modell Bürokratie und verschafft uns so mehr Zeit für Patienten.“ Eine Untersuchung der AOK Niedersachsen zeigt, dass Versicherte, die Teil des Hausarztmodells sind, häufiger von Präventionsangeboten profitieren, einen besseren Impfstatus aufweisen und ein geringeres Risiko für vermeidbare Krankenhausaufenthalte haben. Vorteile haben nach Angaben des Versicherers auch Chroniker, weil sie häufiger an Disease-Management-Programmen teilnehmen. Verglichen wurden in der Analyse Daten von 2,1 Millionen Versicherten, 630.000 davon mit Hausarztvertrag. &bdquo;Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig die Behandlung und Steuerung durch die Hausärzte sind. Sie koordinieren die Behandlung und die weitere Versorgung. Dies garantiert, dass notwendige Facharztbesuche optimal aufeinander abgestimmt sind“, sagt der AOK-Vorstandsvorsitzende Jürgen Peter. Hausarzt sieht Modell als Blaupause für ganz Deutschland Rettstadt sieht das Hausarztmodell deshalb als Blaupause für das von der Bundesregierung geplante Primärarztsystem. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Spitzenverband Fachärzte Deutschlands lehnen das jedoch ab. &bdquo;Niemand braucht in unserem Gesundheitssystem Hausärzte als Türsteher für den Zugang zu Prävention, Vorsorge, notwendiger Diagnostik und Behandlung“, sagt der Fachärzte-Chef Dirk Heinrich. &bdquo;Patienten mit gebrochenen und verstauchten Armen und Beinen haben weder etwas in der Hausarztpraxis noch in den Notaufnahmen zu suchen.“ Das Hausarztmodell erzeugt nach Einschätzung Heinrichs kostenträchtige und unnötige Arzt-Patienten-Kontakte. Ziel der Reform müsse deshalb eine strukturierte und bessere Zusammenarbeit von Haus- und Fachärzten sein. In diese Richtung geht auch das Modell der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), das neben Hausärzten auch Gynäkologen sowie bei chronisch kranken Patienten auch Fachärzte als erste Anlaufstelle für Patienten vorsieht. Angesichts des Hausärztemangels ist es nach Angaben KBV-Chef Andreas Gassen nicht sinnvoll, Patienten nur zur Ausstellung einer Überweisung in die Hausarztpraxis zu lotsen. Patientenschützer sehen die ambulante Versorgung durch ein Primärarztsystem aufgrund des Hausärztemangels gar auf ein Riff zusteuern. &bdquo;Patienten wären die Leidtragenden, denn es wird weder genügend Hausärzte noch eine Termingarantie geben“, warnt der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Bereits jetzt seien viele Hausarztpraxen am Limit und würden keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Hausärzte bekommen Patienten bei Fachärzten oft nicht unter Der Hausärzteverband Westfalen-Lippe sieht diese Gefahren nicht. &bdquo;Richtig ist, dass das Primärarztsystem mehr Arbeit für Hausärzte bedeutet. Aber durch weniger Bürokratie, Doppeluntersuchungen und Situationen, in denen ich Patienten Befunde von Fachärzten erklären muss, die ich nicht in Auftrag gegeben habe, wird Zeit für mehr Patienten frei“, erklärt Rettstadt. Der Dortmunder Allgemeinmediziner stellt jedoch klar, dass Praxen des Hausarztmodells keine Terminservicestellen sind. &bdquo;Alles können wir nicht leisten, aber wir können Patienten besser unterstützen, wenn das System angepasst wird.“ Aktuell stoßen Hausärzte und ihre Teams nach Angaben Rettstadts an ihre Grenzen, wenn sie Patienten an Fachärzte überweisen und sie dabei unterstützen möchten. &bdquo;Benötigen unsere Patienten dringend einen Termin bei einem Facharzt, können wir einen Hausarztvermittlungsfall auslösen, damit der Patient innerhalb weniger Tage einen Termin bekommt.“ Dieses System werde jedoch von einigen Fachärzten missbraucht, moniert Rettstadt. &bdquo;Da Fachärzte für einen Hausarztvermittlungsfall deutlich besser bezahlt werden, als für einen Patienten mit einem normalen Überweisungsschein, fordern viele Fachärzte, dass wir alle Patienten als Hausarztvermittlungsfälle schicken, auch wenn das gar nicht nötig ist.“ Lange Wartezeiten für Kassenpatienten Rettstadt erklärt anhand zweier Beispiele den üblichen Ablauf. &bdquo;Kommt ein Patient mit Beschwerden aufgrund einer Entzündung des Hodens zu mir, behandle ich ihn und versorge ihn bei Bedarf mit Schmerzmitteln und Antibiotika.“ Nötig sei bei solchen Patienten jedoch anschließend auch die zügige Vorstellung beim Urologen. &bdquo;Das ist ein klassischer Hausarztvermittlungsfall, in dem wir den Termin für den Patienten innerhalb weniger Tage organisieren können, weil die Fachärzte solche Fälle aufgrund der besseren Bezahlung gerne annehmen.“ Hausarztvermittlungsfälle fordern Fachärzte nach Angaben Rettstadts jedoch auch bei Patienten, bei denen bei einer Untersuchung durch den Hausarzt zufällig eine vergrößerte Prostata entdeckt wird. &bdquo;Auch diesen Patienten schicke ich zum Urologen. Dringend ist der Fall aber nicht, weshalb ein normaler Überweisungsschein ausreicht, damit ein Termin für die kommenden Wochen vereinbart werden kann“, erklärt Rettstadt. &bdquo;Der Facharzt fordert trotzdem einen Hausarztvermittlungsfall. Kommen wir dem nicht nach, bekommt der Patient einen Termin in neun Monaten.“ Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Hausa?rztinnen- und Hausärzteverband Westfalen Lippe (@hausaerzteverband_wl) Kritik an Fachärzten: &bdquo;Vielen Fachärzten geht es vor allem um Geld“ Der Allgemeinmediziner wirft einigen Fachärzten deshalb vor, sich mit Blick auf einen möglichst hohen Verdienst die Terminkalender mit Notfallpatienten vollzupacken, die keine seien. &bdquo;So bleibt dann für wirklich dringliche Fälle keine Zeit.“ In dem Streit um die Ausgestaltung des künftigen Primärarztsystems gehe es vielen Fachärzten vor allem um Geld, moniert Rettstadt. &bdquo;Auch Hausärzte werden für Patienten im Hausarztmodell besser bezahlt, weil sie das Geld direkt von den Krankenkassen erhalten. Für die anderen Patienten erhalten wir das Geld über die kassenärztlichen Vereinigungen.“ Dieses Plus sei jedoch nötig, um wirtschaftlich arbeiten zu können. &bdquo;Es geht Hausärzten nicht um eine Gewinnoptimierung.“ Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind in Deutschland die Selbstverwaltungskörperschaften der Vertragsärzte und der psychologischen Psychotherapeuten. &bdquo;Wir Hausärzte stellen in der Regel aber maximal 40 Prozent der Vertreterversammlungen, weshalb unsere Macht begrenzt ist“, erklärt Rettstadt. &bdquo;Die Fachärzte fühlen sich im aktuellen System wohl und wollen deshalb weniger ändern.“ Deshalb tobe aktuell innerhalb der Ärzteschaft ein Kampf um die Deutungshoheit. &bdquo;Zielführend ist das nicht, denn das System muss dringend angepasst werden.“

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