
Rheda-Wiedenbrück. Gartenarbeit, Keller aufräumen und Freunde treffen - so wollte Rainer Stephan sein Rentnerdasein nicht beginnen. Angefixt von einem Vortrag über eine Fahrradtour, die fast bis China ging, fragte er seine Frau Marion nach ihrem Okay. Das bekam er für zwei Monate.
Die Zeit reichte dem 64-Jährigen, für seinen „Rentenstart im Fahrradsattel“. Der führte ihn von Rheda-Wiedenbrück nach Istanbul. Von Pfarrerin Kerstin Pilz bekam er den Reisesegen, sein Schornsteinfeger lieh ihm einen goldenen Knopf. „Das hat mich wohl vor größerem Unheil bewahrt“, sagt Stephan.
Mit etwa 20 Kilogramm Gepäck inklusive Zelt startete der passionierte Fahrradfahrer am 1. April mit einem E-Bike - „das ich für mich eigentlich immer abgelehnt hatte“. Stephan wollte sein Abenteuer mit einem Charity-Projekt für den Verein Viva con Agua verbinden, das Wasserprojekte in Entwicklungsländern realisiert.
Mit tschechischem Bier taufte er nach 1.000 Kilometern sein Fahrrad
Auf der Suche nach Unterstützern wandte er sich auch an den heimischen Fahrradhersteller Prophete. Der stellte ihm ein Trecking-E-Bike „Entdecker 5.0“ zur Verfügung. Ständer und Gepäckträger wurden verstärkt, ein Werbeschild am Holm angebracht. „Das hat mir viel Aufmerksamkeit verschafft, ich wurde oft angesprochen.“

Als Route wählte Stephan nicht die Ideallinie. Er wollte auf dem Weg nach Vorderasien Familie und Freunde im Rheinland besuchen. Er wollte Pilsen und Budweis sehen. Mit tschechischem Bier taufte er in Marienbad nach 1.000 Kilometern sein Fahrrad auf den Namen „Propheteus“ - auf dass es ihm weiterhin gute Dienste leiste.
40 Tage radelte Stephan, pro Tag durchschnittlich 112 Kilometer. Er überwand in Summe 29.130 Höhenmeter. Bei der schnellsten Abfahrt zeigte sein Tacho 63,7 km/h. Die einzelnen Etappen, zwischen 39 und 190 Kilometer lang, wählte er nach den Übernachtungsmöglichkeiten aus.
Sein Zelt baute er auch an einer Raststätte zwischen Lkw auf
Manchmal wich er davon ab. Etwa vor Linz, wo ihm ein Vater bei einer Pause sein Gartenhaus anbot. Im Gegenzug half er seinem Gastgeber beim Bau eines Spielhauses. So viel Glück hatte Stephan in Bulgarien nicht. Da fand er kein Hotel und baute sein Zelt auf einer Raststätte zwischen Lkw auf.
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Eine Verabredung hatte der radelnde Rentner mit Sebastian Göller in Wien. Der Sohn eines Freundes arbeitet bei Elektro Beckhoff. In der 20. Etage des Saturn-Towers entwickelt er einen Industrieroboter mit einem internationalen Team.

Von dem bekam Stephan einen weiteren Kontakt in einem Vorort von Budapest. In der ungarischen Hauptstadt erlebte er das Großereignis „I bike Budapest“ mit 20.000 Fahrradfahrern - „ein Highlight meiner Reise“.
Sein Weg führte den Rentner über Schotter- und Geröllpisten
Viele Sehenswürdigkeiten schaute sich der Rheda-Wiedenbrücker trotz der teils ambitionierten Tagesetappen an: die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen besuchte er ebenso wie das Grab von Udo Jürgens auf dem Wiener Zentralfriedhof. Er stoppte in Osijek an einem Mahnmal, wo während des Jugoslawienkrieges ein Krankenhaus zerbombt worden war und poste vor dem Stadion von Fenerbahçe Istanbul für einen Freund.
Geprägt war die Reise von Begegnungen und Gesprächen. Mit Oppositionellen sprach der 64-Jährige über die problematische Demokratie in Ungarn und über die fehlende Pressefreiheit in Serbien. Er nahm eine vormittägliche Einladung zum Sliwowitz an und redete mit bulgarischen Gastarbeitern er über das Leben auf Baustellen in Deutschland. Am Goldstrand erwartete er feiernde Abiturienten und traf einen Kegelclub aus Datteln, ebenfalls in Partylaune.
So freundlich die Menschen auf dem Balkan waren, so froh war Stephan, als er die türkische Grenze überquerte und auf „erstklassigem Asphalt“ rollte. Zuvor waren die Straßen in einem miserablen Zustand, der Weg führte über Schotter- und Geröllpisten, im Morast blieb er zwei Mal stecken. „Und der Verkehr war höllisch.“
Platten kurz vor Istanbul als einzige Panne der XXL-Radtour
Überwinden musste der Rheda-Wiedenbrücker nur kleine Probleme. Im Spessart hat er sich verfahren, in Lohr am Main traf er auf unfreundliche Gastwirte und kurz vor Aschaffenburg verlor er sein Handy. „Das neue habe ich in einer zweieinhalbstündigen Videokonferenz mit meinem Sohn eingerichtet.“ Das war wichtig, denn Stephan informierte täglich per Social Media über seinen „Rentenstart im Fahrradsattel“.
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50 Kilometer vor Istanbul hatte der 64-Jährige die einzige Panne: einen Platten. Bei der Reparatur half ihm ein Lkw-Fahrer, sodass der Journalist pünktlich der Einladung der deutschen Vizekonsulin zur ESC-Party in der türkischen Millionen-Metropole folgen konnte. Nach dem offiziellen Empfang bei der deutschen Konsulin durfte er dort die Akkus einlagern, die er nicht im Flugzeug mitnehmen durfte, und sein Zelt.
Das braucht Stephan für seine nächste Radtour nicht. Am Mittwoch startet er mit Freunden zur Alpenüberquerung auf der "Via Claudia Augusta“ von Füssen zum Gardasee. Danach will er mit dem anderen Rentnerdasein beginnen. Dann arbeitet der 64-Jährige im Garten, räumt den Keller auf und trifft Freunde.