Sierra Leone/Halle. „Corona gibt es hier nicht", berichten zwei Deutsche in Sierra Leone. Damit meinen sie natürlich nicht, dass das Virus um das westafrikanische Land einen Bogen gemacht hätte. „Die Menschen sterben hier aus so vielen anderen Gründen", erklärt der Bielefelder Marcel Juchhoff, der zusammen mit seinem Bruder Florian Juchhoff und der Haller Fotografin Anjuscha Wörmann das Land bereist.
Hunger ist ein viel bedeutsameres Problem für die Menschen – das merken die beiden vor allem bei einem Besuch in einem Slum, in dem es nur zwei Wochen zuvor ein großes Feuer gab. Hunderte Kinder folgen den beiden Besuchern, die von einer Bekannten durch das Gebiet geführt werden. Es werden immer mehr. Mit einem Singsang begleiten sie die beiden. „Es war fast wie ein Kinderlied", beschreibt Anjuscha Wörmann – doch es war ernst: Mit eindeutigen Gesten unterstrichen sie ihre Worte, ihre Bitte: „Weiße Menschen, gebt uns Essen." „Mein Herz hat geblutet", sagt die 36-Jährige. Da der Zustrom weiterer Kinder nicht zu enden scheint, werden beide abrupt aus dem Slum geführt – zur Sicherheit. Beide seien geschockt von dieser Erfahrung.

16.000 Menschen, die schon vor dem Unglück weit unter der Existenzgrenze lebten, haben nun auch noch ihre notdürftigen Behausungen aus Blech und Steinen verloren. In Zelten hausen sie am Rand der städtischen Mülldeponie und zwischen stinkenden Abwasserkanälen. Um Geld zu verdienen, verkaufen sie Dinge, die in Deutschland in den Müll wandern würden: Elektroschrott oder auch Billigtextilien, sogar Werbegeschenke, die aus Industrieländern stammen.
Neben Armut, Obdachlosigkeit und Hunger steht das nächste Unglück schon bevor. „In zwei Monaten endet die Trockenzeit", erläutert Marcel Juchhoff. Schon vor zwei Jahren erfuhr er, dass die Überflutungen, die nach dieser Phase folgten, viele Kinder das Leben gekostet haben. „Man kann sich also schon ausmalen, was passiert, wenn diese Fluten in das Tal strömen, in dem sich dieser Slum befindet, und was mit den Menschen in den Zelten wird ..." Als der IT-Servicemanager zum ersten Mal Fotos von toten Kindern auf Facebook zugeschickt bekommen hat, versuchte er andere zu mobilisieren, um den Opfern dieser Katastrophe zu helfen. „Das mache ich nicht mehr." Die Resonanz war damals ernüchternd – nicht einmal hundert Euro kamen zusammen. Er habe erkannt, dass er nichts dagegen tun kann. Damals nicht und auch in zwei Monaten nicht.
Normale Fotos oder Katastrophen-Tourismus
Untätig ist der 28-Jährige jedoch nicht. Mit dem sechsköpfigen Verein UCC Orphanage, den er mit seinem Stiefvater gegründet hat, baut er ein Waisenhauszentrum in Freetown. In zwei Wochen soll der Bau für das Haupthaus beginnen. Wenn alles gut geht, sollen im November 20 Kinder einziehen, die momentan noch in einem gemieteten Haus betreut werden. Eine Köchin, einen Hausmeister und zwei weitere Mitarbeiter hat der Verein eingestellt, um den jungen Waisen ein Zuhause zu geben. Da Mieten in Sierra Leone teuer ist, hat der Verein ein 4.500 Quadratmeter großes Grundstück gekauft, auf dem nach und nach Häuser für weitere Kinder entstehen. Gleichzeitig sollen auch die Pflegeeltern dort leben können.

Da man sich von Deutschland aus die Not in der Ferne schwer vorstellen kann, hat der Verein Anjuscha Wörmann als Fotografin mitgenommen. Die Hallerin hält das Schicksal der Ärmsten fest. „Eine mega emotionale Erfahrung", sagt sie, bei der sie auch an moralische Grenzen stößt. „Es ist manchmal schwer, die Kamera draufzuhalten", beschreibt sie. Doch wenn sie könnte, würde sie noch mehr als nur Bilder einfangen. Auch Gerüche wie das Müll- und Abwassergemisch aus dem Slum oder Töne wie das Hungerlied der Kinder würde sie festhalten, um den Menschen in Deutschland zu zeigen, dass ihre Spenden gebraucht werden.
Trotz der Ideale: Der schmale Grat zwischen normalen Fotos und Katastrophentourismus ist beiden präsent. Marcel Juchhoff: „Es geht nicht um Selbstdarstellung – als Besucher von dramatischen Orten. Es geht darum wiederzugeben, wie die Lage vor Ort aussieht." Vor allem in der Pandemie haben diese Fotos eine wichtige Aufgabe: „Durch Corona sind viele andere Themen nicht mehr präsent", stellt Anjuscha Wörmann fest, die seit ihrer Ankunft vor zwei Wochen selbst kaum noch an Corona gedacht hat. Viele Vereine hätten Probleme, noch Spenden für ihre Ziele zu sammeln, ergänzt Marcel Juchhoff. Dabei wäre die Unterstützung von Menschen in Sierra Leone aus deutscher Perspektive gar nicht teuer – denn der Mindestlohn liegt gerade mal bei 70 Euro pro Monat.
Frustrierend ist, dass viele politische Hilfsgelder gar nicht ankommen – was die Arbeit der ehrenamtlichen Organisationen umso dringlicher macht. Aus Gesprächen vor Ort hat er erfahren, dass Hilfsgelder verschwinden und kurz darauf Regierungsmitglieder neue Luxusgüter kaufen können. Geld, das dringend gebraucht wird. Mit dem beispielsweise das Wasser abgeleitet werden könnte, um Slums vor der Überflutung zu schützen.
Doch ohne finanzielle Hilfe bleibt die Not groß – so groß, dass man sich klarmachen muss, dass man nicht allen helfen kann, betont Marcel Juchhoff. „Ich verschaffe mir hier regelmäßig einen Überblick. Man muss leider Prioritäten setzen und entscheiden, wer die Hilfe als Erstes benötigt." Das sind beispielsweise Waisenkinder. Aber auch gegen Probleme wie Kinderprostitution würde der Bielefelder gerne bald etwas machen. Für den Vereinsvorsitzenden haben die Nöte, die Kinder betreffen, Vorrang: „Denn sie können am wenigsten dafür, dass sie in diese Situation hineingeboren wurden."

Schlappen und Hühner3.500 Kilogramm Quellreis, 250 tote Hühner und ganz viele Schlappen sowie Unterwäsche für die Kinder werden dank des Vereins UCC Orphanage den Familien in dem abgebrannten Slum gespendet.Wenn Sie den Verein unterstützen wollen, erfahren Sie mehr unter www.ucc-orphanage.net
Um Ihren Kommentar abzusenden, melden Sie sich bitte an.
Sollten Sie noch keinen Zugang besitzen, können Sie sich hier registrieren.