Schreckliche Vergangenheit: Neue Straße dient als Mahnmal an Werthers dunkelste Stunden

Werther. In seinen dunkelsten Stunden, als sein Haus von einem Mopp geplündert, er zur Zwangsarbeit verpflichtet, schließlich mit Frau und Söhnen per Viehtransport ins Warschauer Ghetto deportiert wurde und höchstwahrscheinlich am Ende in Treblinka in einer Gaskammer sterben musste, hätte Alfred Weinberg sich wahrscheinlich alles vorstellen können – außer, dass in der Zukunft in seiner Heimatstadt eine Straße nach ihm benannt werden würde. Zwar hatte er sich zeitlebens um Werther verdient gemacht, war ein angesehener und engagierter Bürger seiner Heimatstadt, doch was er in den letzten Jahren seiner Zeit dort erleben musste, lässt einen heute noch schlucken und mit Betroffenheit zurück – so wie die Schicksale von zig Millionen Deutschen mit jüdischen Wurzeln. An diesem sonnigen Vormittag, in einer Zeit, in der nationalsozialistische Parolen und Gedankengut vielerorts wieder bedenkenlos propagiert werden, haben sich am Teutoburger-Wald-Weg neun Wertheranerinnen und Wertheraner versammelt – unter anderem, weil sie genau dagegen ein Zeichen setzen wollen. Das Zeichen hat die Form eines Straßenschildes, auf dem &bdquo;Alfred-Weinberg-Weg“ zu lesen ist. Alle Anwohner bekommen Flyer mit der Geschichte Alfred Weinbergs Die Ringstraße, die 60 Grundstücke miteinander verbindet, wird den Namen des Wertheraners und damit auch in das Bewusstsein der 300 bis 500 Anwohner und deren Besucher tragen. Und damit alle wissen, nach wem die Straße benannt ist, hat die Stadt in Zusammenarbeit mit dem &bdquo;Arbeitskreis Spuren jüdischen Lebens in Werther“ einen Flyer herausgebracht. Den bekommen alle neuen Anwohner der Straße, und er liegt auch im Rathaus aus. Mit der Benennung der Straße wolle man daran erinnern, dass jüdisches Leben einst einen festen Platz in der Gesellschaft hatte und es kein Zufall sei, dass es weniger geworden ist, sondern es bewusst vertrieben und vernichtet wurde, sagt Bürgermeister Veith Lemmen. &bdquo;Ich bin froh, dass es nach vielen Jahren mal wieder die Möglichkeit gibt, eine Straße, an der es viele Adressen gibt, zu benennen.“ Die jüdischen Bürger, so Veith Lemmen, sollen in Erinnerung bleiben und auch, &bdquo;dass jüdisches Leben hier einen Beitrag geleistet hat“. Seit vergangener Woche, ergänzt Sarah Huxohl vom Bauamt, stehe das Schild an der einzigen Zufahrtsstraße in das Neubaugebiet Blotenberg. Seitdem händigen sie und ihre Kolleginnen und Kollegen im Rathaus auch den künftigen Hausbewohnerinnen und -bewohnern die Flyer aus. &bdquo;Und wir bekommen wirklich sehr positives Feedback darauf.“ Nachkommen nehmen von Australien aus Anteil Den Anstoß dafür, dass eine Straße in Werther nach einer jüdischen Familie benannt werden sollte, hat vor vielen Jahren der &bdquo;Arbeitskreis Spuren jüdischen Lebens in Werther“ gegeben. Sieben Mitglieder sind zur Straßenbenennung gekommen und in Gedanken sind auch Menschen dabei, die weit entfernt sind. Ben Wingfield zum Beispiel, der 15.000 Kilometer entfernt in South Australia lebt, hat eine E-Mail geschickt, die Ute Dausendschön-Gay vom Arbeitskreis zu Beginn der Straßenbenennung verliest. Ben Wingfield ist der Großneffe Alfred Weinbergs. &bdquo;Ich möchte Ihnen aufrichtig für all Ihre Arbeit danken, mit der Sie das jüdische Leben in Werther gewürdigt, dokumentiert und gefeiert haben“, schreibt er auf Englisch. &bdquo;Vielen Dank ... für die große Ehre, dass eine Straße nach unserer Familie benannt wurde.“ Lesen Sie auch: So noch nie gesehen: Diese Stadtführer zeigen Werther von einer ganz anderen Seite Ben Wingfields Großvater ist Alfred Weinbergs Bruder Moritz, erklärt Ute Dausendschön-Gay. Auch er war gebürtiger Wertheraner und wurde mit seiner Familie in Auschwitz ermordet. Nur sein Sohn Rolf überlebte, gelangte später nach Australien, nannte sich in Ralph Wingfield um, und erzählte seinen Söhnen Ben und Max von dem Grauen, das er erlebt hatte. Auch aus Bielefeld kamen Menschen und erbaten Kredite Die Familie Weinberg war seit 1703 in Werther ansässig. Der 1894 geborene Alfred Weinberg übernahm in den 1920er Jahren von seinem Vater das traditionsreiche Textilgeschäft Jordan B. Weinberg an der Stelle der heutigen Sparkasse. &bdquo;Das war eine wichtige Adresse in der Stadt für viele Generationen“, sagt Ulrich Dausendschön-Gay. Alfred Weinberg sei nicht nur als Kaufmann geachtet gewesen und weil er in der jüdischen Gemeinde Vorsteher und Prediger war, sondern er war auch in der Wertheraner Gesellschaft tief verwurzelt. &bdquo;Bis aus Bielefeld kamen Menschen, um von ihm Kleinkredite zu erfragen“, sagt Ulrich Dausendschön-Gay. Durch diese Stellung und dadurch, dass er im Ersten Weltkrieg gekämpft, verwundet und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war, fühlte er sich sicher und glaubte lange nicht daran, dass er ebenfalls Opfer des Rassenwahns werden könne. Eine Badewanne diente als Bett Doch 1938 wurden sein Haus und sein Laden von einer johlenden Masse geplündert. Er wurde zum Verkauf des Geschäfts gezwungen. Arbeitete als Zwangsarbeiter in Brackwede, wohin er täglich mit der Kleinbahn – stehend im Güterwaggon – fuhr. Am 31. März 1942 wurden Alfred Weinberg, seine Frau Grete sowie die 18 und 15 Jahre alten Söhne Walter und Herbert gemeinsam mit 1.000 anderen Menschen jüdischen Glaubens vom Bielefelder Hauptbahnhof ins Warschauer Ghetto deportiert. Dort verlor sich ihre Spur bislang. &bdquo;Wir konnten nur vermuten, dass sie wie andere auch, ins Vernichtungslager in Treblinka gebracht wurden und dort in der Gaskammer starben“, sagt Ute Dausendschön-Gay. Doch dann stieß Arbeitskreis-Mitglied Ulrich Maaß auf das Buch &bdquo;Vom Pimpf zum Plenni“, in dem der Herforder Rainer Pape über seine Zeit in der Hitler-Jugend schreibt. Dort zitiert er seine Mutter. Sie habe von Familie Weinberg erfahren, dass diese in Warschau sei, &bdquo;dort müssen sie sich Arbeit und Brot suchen. Quartier haben sie in einer Badeanstalt gefunden. Eine Badewanne dient als Bett.“ Das sei das Letzte, das man gehört habe, sagt Ute Dausendschön-Gay. In Alfred Weinberg habe man eine bedeutende Persönlichkeit mitten aus dem Leben gerissen, sagt Sigrid Ellerbrake vom Arbeitskreis. Damit die Erinnerung daran lebendig bleibe, deshalb habe man sich für ihn als Namenspatron entschieden. Für alle, die sich für die Geschichte der jüdischen Familien Werthers interessieren, gibt es in der Stadtbibliothek eine Sammlung mit Hintergrundinformationen zur Einsicht. www.arbeitkreis-spuren-werther.de

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