Wertheranerin war Teil von Christos spektakulärer Verhüllung des Reichstags

Werther. Das Bild des verhüllten Reichstags, über den scheinbar ganz locker riesige Bahnen silbrig glänzenden Stoffs geworfen, verschnürt wurden, kennt wohl jeder. Wer zu jung ist, um das Kunstspektakel des New Yorker Künstlerpaares Christo und Jeanne-Claude in Berlin damals direkt verfolgt zu haben, der kennt mit Sicherheit Bilder von dem gigantischen Kunstwerk. Oder hat jetzt zum 30-jährigen Jubiläum Videos von der beeindruckenden Lichtinstallation gesehen, die die Verhüllung simuliert. Aber wer weiß schon, wie es unter den Stoffbahnen aussah? Mit welch riesigem Aufwand die scheinbar mühelos drapierten Stoffe zentimetergenau verankert und festgezurrt wurden und vor allem – was im Inneren des Reichstags während der Verhüllung geschah. Das wissen nur die Allerwenigsten. Eine von ihnen ist die Wertheranerin Christiane Schröer. Als frischgebackene Diplom-Textil-Ingenieurin war sie 1995 nicht nur an entscheidender Stelle in die direkten Vorarbeiten für das Kunstevent involviert, sondern arbeitete eng mit Christo und Jeanne-Claude zusammen. So eng, dass Jeanne-Claude Christiane Schröer nach dem Ende des Events sogar bat, mit den beiden nach New York zu gehen und auch dort für sie zu arbeiten. Praktikum erwies sich als Schlüssel zum Traumjob für die Frau aus Werther Ein Angebot, das wahrscheinlich nur wenige 25-Jährige ausgeschlagen hätten. Christiane Schröer tat es. Auch weil sie sich keine so große räumliche Trennung zu ihrem Freund vorstellen konnte, mit dem sie in Berlin lebte. Bereut hat sie die Entscheidung nie. Der Freund ist heute ihr Mann, und gemeinsam mit ihm leitet sie das Familienunternehmen in Werther, die Winkler GmbH, die Filtertechnologie herstellt. &bdquo;Ich bin genauso glücklich, wie es ist“, sagt sie. Aber erst mal zum Anfang: Christiane Schröer hatte im Rahmen ihres Studiums der Textilerzeugung mit dem Schwerpunkt Qualitätssicherung ein dreimonatiges Praktikum gemacht bei der Emsdettener Firma Schilgen, bei der man auf die Herstellung von technischen Geweben spezialisiert war. Dort wäre sie gerne geblieben, aber es gab keine freie Stelle. Mehr dazu: Ein Haus verschwindet, ein Bild bleibt So meldete sich Christiane Schröer zunächst beim Arbeitsamt. Doch ein paar Monate später klingelte das Telefon. Am Apparat war ihr ehemaliger Praktikums-Chef. &bdquo;Kennen Sie Christo?“, kam er direkt zum Punkt. &bdquo;Nein“, antwortete die damals 25-Jährige. &bdquo;Der sucht ganz dringend jemanden für sein Reichstagsprojekt. Ich habe Sie vorgeschlagen“, erläuterte Schilgen. Vorstellungsgespräch mit Christo fand im Museum statt Nur wenige Tage später machte sich Christiane Schröer auf den Weg nach Künzelsau. Dort im Kunstmuseum Würth sollte sie sich bei Christo und Jeanne-Claude vorstellen. Die beiden waren gerade dort, um im Auftrag des Milliardärs und Kunstmäzen Reinhold Würth das Foyer des Museums zu verhüllen. &bdquo;Wir hatten ein kurzes Vorstellungsgespräch. Die beiden waren total nett“, erinnert sich Christiane Schröer. Sie hatte den Job und wurde zum 2. Januar 1995 Angestellte der &bdquo;Verhüllter Reichstag GmbH“. Ihre Aufgabe war es, die Qualitätsrichtlinien, nach denen die eigens gewobenen und zusammengenähten Stoffbahnen kontrolliert wurden, zu entwickeln und deren Anwendung umzusetzen. Wobei das Wort Stoff vielleicht ein falsches Bild erzeugt, denn dabei handelte es sich um 100.000 Quadratmeter feuerfestes Polypropylengewebe, das mit einer Aluminiumschicht überzogen wurde. Und es schwebte auch nicht locker auf dem Reichstagsgebäude, sondern war mit Stahlseilen festgezurrt, die im Inneren des Gebäudes in Betonfundamenten verankert waren. Damit die Seile durch den Stoff gezogen werden konnten, gab es in den Stoffbahnen in genau festgelegten Abständen eine Art Knopflöcher, die von innen mit einem weiteren Gewebe verstärkt waren, das Laien als Kunststoffplane bezeichnen würden. Stoffe wurden mit Nähmaschinen der NVA genäht Damit alles die enormen Kräfte, mit denen der Stoff gespannt wurde, aushalten konnte, mussten die Verstärkungen in ganz bestimmtem Muster angenäht werden, erklärt Christiane Schröer. Zu Hause in Arrode hat sie noch heute so ein Musterstück mit Geweben, Verstärkung, Knopfloch und Nähten und zeigt, worauf es dabei ankommt. Die Monate von ihrer Einstellung bis zur Reichstagsverhüllung vergingen wie im Flug. Und obwohl Christo und Jeanne-Claude über 20 Jahre auf dieses zweiwöchige Event hingearbeitet hatten, wurde am Ende die Zeit knapp. Christiane Schröer hatte ihr Büro im Hauptquartier der &bdquo;Verhüllter Reichstag GmbH“, schräg gegenüber dem Gebäude, und war in den ersten Monaten Teil des nur knapp zehnköpfigen Teams, das das Event vorbereitete. Doch immer öfter war sie auch vor Ort in der Näherei in Ostdeutschland, in der die insgesamt 70 Stoffbahnen zusammengenäht wurden. &bdquo;Dort gab es eine Firma, die früher für die Nationale Volksarmee genäht hat und aus dieser Zeit noch Nähmaschinen auf Schienen hatte, die dann an den tonnenschweren Stoffbahnen entlangfuhren“, sagt Christiane Schröer. Christo kam erst zum Start der Verhüllung des Reichtags Als die Zeit immer knapper wurde, flog sie kurzfristig nach Norditalien, wo eine zweite Näherei gefunden wurde. In kürzester Zeit wies Christiane Schröer die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort ein und sorgte so dafür, dass alle Stoffbahnen rechtzeitig in Berlin zur Verfügung standen. Christo und Jeanne-Claude trafen erst einen Tag vor dem Beginn der Verhüllungsarbeiten im Berliner Büro ein, dessen Mitarbeiterstab inzwischen auf gut 300 Leute angewachsen war. Bis zum letzten Moment hatte Christo in New York im Akkord Bilder des geplanten Reichstags gezeichnet, die für 150.000 bis 500.000 D-Mark verkauft wurden, und maßgeblich zur Finanzierung des 15 Millionen D-Mark teuren Projekts beitrugen. Lesen Sie auch: Der Mann, der die Welt verpackte - Christo ist tot Von den Tagen mit den beiden in Berlin erinnert sich Christiane Schröer vor allem an Jeanne-Claude, die mit großer Warmherzigkeit um das Wohl der Mitarbeitenden besorgt war. &bdquo;Es war unglaublich heiß in diesen Junitagen und sie hatte immer Sorge, dass wir nicht genug trinken“, erzählt Christiane Schröer. In der Presse sei sie immer so negativ dargestellt worden. Dabei sei sie ganz bodenständig gewesen und immer sehr aufmerksam. Wertheranerin bat Karl Lagerfeld, die Sonnenbrille abzunehmen Christo hingegen war, wenn er nicht bei den Verhüllungsarbeiten war, gefühlt rund um die Uhr mit Signieren beschäftigt oder gab Interviews. Während die Drucke mit seinen Signaturen zu guten Preisen verkauft wurden, signierte er für die Mitarbeitenden gerne alles, was sie ihm hinhielten. Fünf Millionen Menschen kamen zwischen dem 24. Juni und dem 7. Juli 1995 nach Berlin, um sich den Reichstag anzusehen. Unter ihnen viele Prominente. Einer von ihnen war Modedesigner Karl Lagerfeld, der den Wunsch äußerte, das Kunstwerk auch von innen zu sehen. Als Sicherheitsbeauftragte wurde Christiane Schröer gebeten, die Führung für ihn zu übernehmen. Der Reichstag, der erst vier Jahre später Sitz des Bundestages werden sollte und direkt an der Berliner Mauer gelegen, nach dem Krieg Jahrzehnte ein Schattendasein gefristet hatte, glich im Inneren eher einem Rohbau, beschreibt Christiane Schröer. &bdquo;Außerdem war es durch die Verhüllung sehr dunkel und man konnte über die vielen Stahlseile, die im Boden verankert waren, leicht stürzen.“ 20-köpfige Entourage von Karl Lagerfeld war mit dabei Karl Lagerfeld kam mit einer rund 20-köpfigen Entourage. Alle mussten einen weißen Helm aufsetzen. Nachdem er Christiane Schröer schon einige Meter gefolgt war, fasste sich die 25-Jährige ein Herz: &bdquo;Herr Lagerfeld, ich möchte Sie dringend bitten, Ihre Sonnenbrille abzusetzen. Es ist hier drinnen sonst zu gefährlich.“ Der Weltstar tat es und folgte der Wertheranerin bis aufs Dach des Reichstages, wo sie die Gäste durch eine verborgene Tür das Kunstwerk von oben betrachten ließ. Nach zwei Wochen war das weltweit beachtete Event vorbei. Es gab eine Abschiedsfeier mit allen Beteiligten im Berliner Tränenpalast. Danach kehrte Christiane Schröer zurück in ihr altes Leben, &bdquo;Zuerst war es schon komisch so von 1.000 auf null“, sagt sie. Doch ihre Erfahrung sollte sich auszahlen. Denn ein halbes Jahr später wartet der nächste spektakuläre Job auf sie. Sie sollte für das berühmte Sieben-Sterne-Hotel Burj al Arab in Dubai, das auf einer künstlichen Insel im Meer einem Segelschiff nachempfunden ist, die Qualitätskontrolle für das 321 Meter hohe Segel übernehmen, das zur Landseite die Fassade des Hotels überdeckt und aus einem PTFE-Glasgewebe besteht. Ebenso spektakulär der Folgeauftrag, 40.000 Pilgerzelte für die Wallfahrt nach Mekka in Saudi-Arabien zu prüfen. Ereignis bestimmt ganzes Leben der Frau aus Werther Doch so etwas wie die Reichstagsverhüllung hat sie nie wieder erlebt. &bdquo;Das bestimmt immer noch mein Leben“, sagt Christiane Schröer. Dieses tolle Gemeinschaftsgefühl im Team, die Hektik und gleichzeitig die Ruhe, die von dem Ereignis ausging. Und die Zielstrebigkeit, mit der Christo und Jeanne-Claude, ihr Projekt verfolgt haben. Am beeindruckendsten aber war das friedliche Miteinander der Tausende von Menschen, die beeindruckt waren, von dem, was das berühmte Künstlerpaar – auch mithilfe von Christiane Schröer – geschaffen hatte. Aktuelle News bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal des HK

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