Lost Place: Schaurige Erinnerung an Werthers erstes Schwimmbad

Werther-Häger. Das war wirklich keine besonders gute Idee, denke ich, als ich an einem trüben und verregneten Spätnachmittag die steile Böschung hinunterrutsche. Nicht das unwegsame und unerschlossene Gelände, durch das ich mich Schritt für Schritt vortaste, lässt mich zweifeln. Es ist vielmehr die Abgeschiedenheit des Wäldchens. Bis zum Ortsrand von Häger Richtung Westen ist es mehr als ein Kilometer. Richtung Osten nach Jöllenbeck sind es sogar zwei. Ab und zu sehe ich zwischen den Bäumen ein Auto auf dem Hägerfeld vorbeifahren. Doch das ist weit weg und vor allem: weit oben. Denn ich stehe ganz unten in einem überraschend tiefen Taleinschnitt, den der Mühlenbach hier einst gegraben hat. Am Rande eines - so scheint es - Teiches, mitten im Wald, verwunschen, voller Pflanzen und vor allem verlassen. Und so schön es aussieht, wie die Natur hier sich selbst überlassen ist, so macht sich doch eine unheimliche Atmosphäre breit. Einst voller Leben, nun totenstill Denn dieses hier ist kein idyllischer Tümpel, sondern ein Lost Place. Ein Ort, der einst von Menschen geschaffen wurde und voller Leben war und der dann aufgegeben und sich selbst überlassen wurde. Ich stehe am Becken der früheren Badeanstalt Häger. Nächsten Monat, am 11. Juni, ist es 90 Jahre her, dass sich genau hier unschöne Szenen abgespielt haben. Dass ein fröhliches Volksfest jäh unterbrochen wurde und dass die Menschen, die weit draußen auf dem Lande lebten, einen Vorgeschmack bekamen, wie sich Nazi-Deutschland in den folgenden Jahren entwickeln sollte. Der 11. Juni 1933 war ein Sonntag. Und neben dem Wasser, das zwar auch auf zwei Seiten wie heute an ein kleines Wäldchen grenzte, an das sich aber auch Wiesen schmiegten, stand ein Festzelt. Viel Publikum war gekommen und stand in Zweier- und Dreierreihen rund um das Becken. Es muss eine ausgelassene Atmosphäre geherrscht haben, denn die Menschen aus den umliegenden Dörfern, allen voran aus Häger, aber auch aus Schröttinghausen, Jöllenbeck und Werther, feierten die Einweihung des ersten Schwimmbades in der Gegend. Mitglieder des SV Häger leiteten die Arbeiten So beschreibt es eine unbekannte Autorin in einem Aufsatz, der im Wertheraner Geschichtsportal zu finden ist und der sich unter anderem auf Zeitungsartikel aus dem "Haller Kreisblatt" und dem "Bielefelder Generalanzeiger" aus dem Sommer 1933 bezieht. Für ihren 1992 veröffentlichten Aufsatz hatte die Autorin auch alte Hägeraner Zeitzeugen befragt, die sich noch an das Freibad und dessen Blütezeit erinnern konnten. Die Geschichte des Bades begann bereits zwei Jahre vor dem Eröffnungstag. In den Jahren 1931 und 1932 ist "ganz Häger unter der Leitung verschiedener Vereinsmitglieder" des SV Häger aktiv beim Bau des Bades dabei. Ursprünglich soll an dieser Stelle des Mühlenbachs eine alte Wassermühle samt Teich gestanden haben. Doch die Mitglieder des Sportvereins träumten von einem Bad. Der Besitzer des Grund und Bodens, der Jöllenbecker Landwirt August Meyer zu Barkholz überließ dem Verein das Land kostenlos auf 25 Jahre, wie es aus der Vereinschronik aus den Jahren 1921 bis 1939 hervorgeht. Alle packten mit an Für fünf Euro die Woche hoben arbeitslose Wertheraner die Erde für das Schwimmbecken aus, in dem der Mühlenbach gestaut werden sollte. Landwirte fuhren Sand für den Bau heran und spendeten Holz, und in ihrer Freizeit packten die Bürger mit an und schufteten für die Allgemeinheit. Die Dorfbewohner fühlten sich so sehr mit dem Bad verbunden. Sie wollten sich selbst ein Denkmal setzen. Zum Thema: Dieses Hotel ist Kult: Wer hier absteigt, begibt sich auf eine Zeitreise In den 50 mal 50 Zentimeter großen Betonplatten auf dem Boden des Kinder- und Nichtschwimmerbereichs wurden die Namen aller am Bau Beteiligten gegossen. Sogar Max, das Pferd, das die Loren gezogen hatte, in denen der Sand transportiert wurde, wurde berücksichtigt. Nachdem die Beckenwände hochgezogen, Sprung-Blöcke und Holzumkleidekabinen errichtet worden waren, sollte die Einweihung stattfinden. Deren Höhepunkt war ein Schauwettkampf der besten Schwimmer des Schildescher Schwimmvereins. Auch Clowns und ein Sprung in schicker Abendkleidung vom Zwei-Meter-Brett ins Wasser dürften zum bunten Programm der Eröffnung gehört haben, vermutet die Autorin des Aufsatzes im Geschichtsportal, denn das entsprach dem Stil der Zeit. Mit Knüppeln bewaffnet wird das Fest beendet Doch dann geschieht das Unfassbare. "Eine Abordnung der SA mit Schultergürteln und Knüppeln bewaffnet und der beorderten Jöllenbecker Schutzpolizei löst die Festversammlung auf. Ein Hägeraner SA-Mitglied stellte sich auf das Zwei-Meter-Brett und appellierte an die Leute doch zu gehen", heißt es in dem Aufsatz, der bildhaft die jähe Unterbrechung der fröhlichen Stimmung beschreibt. Offiziell begründet die neue Autorität einige Wochen später im Bielefelder Generalanzeiger das Vorgehen damit, dass der verbotene Verein "Freie Schwimmer" unter dem Deckmantel des Schildescher Schwimmvereins das Fest habe aufziehen wollen. Der SA-Sturmtrupp Jöllenbeck/Werther habe sich "der Angelegenheit liebevoll" angenommen, heißt es zynisch weiter. Und: "Obwohl es sich um ein Volksfest handelte, hatte es der Vorstand und der Vorsitzende des Schwimmvereins, Lehrer Sunderkötter, nicht für nötig gehalten, die Reichsfarben zu hissen." Somit endet das Fest, mit dem sich die Bürger selbst beschenken wollten, abrupt. Eine Woche später wurde das Bad dann, aus Sicht der Nationalsozialisten, "in angemessener Form" mit einer Kapelle der Partei eingeweiht. Die Umkleide wurde im Krieg verheizt Mit Beginn des Krieges 1939 konnte der Hägeraner Schwimm- und Sportverein weder die Beaufsichtigung, noch die Pflegearbeiten gewährleisten. Durch die Erlen ringsherum verschattete das Bad immer mehr und das 1938 eröffnete sonnige Schröttinghauser Bad trat in Konkurrenz. Die Holzumkleidekabinen wurden dann in den harten Kriegswintern verheizt. Nach dem Krieg wurde der Beckengrund von hineingeworfenen Waffen befreit und man machte das Bad wieder schwimmtauglich, aber Schatten und fehlende Kabinen hatten die Attraktivität des Bades stark herabgesetzt. So kamen immer weniger Schwimmer und Schwimmerinnen - und ab etwa 1950 übernahm die Natur immer mehr das Regime. In den vergangenen 70 Jahren hat sie ganze Arbeit geleistet. Ich schaue mich um. Von den großen hügeligen Liegewiesen ist nichts mehr zu erahnen. Wo sollen die Umkleidekabinen gestanden haben? Einen gemauerten Beckenrand suche ich vergeblich; das Wasser ist einfach umringt von dichten Büschen. Doch dann sehe ich eine Mauer. Ganz hinten am anderen Ende des etwa 50 Meter langen Beckens ragen einige Steinreihen aus dem Wasser. Und was wie Zinnen auf der Mauer aussieht, müssen wohl die Sprung-Blöcke gewesen sein. Mit viel Liebe ein Sommerbad errichtet Und für einen kurzen Moment sehe ich das neu errichtete Becken vor meinem inneren Auge. Umringt von den fröhlichen Menschen, die sich mit viel Liebe und Eigeninitiative hier für einige Jahre ihren Traum von einem Sommerbad mitten auf dem Land erfüllt haben. Ob wohl noch ihre Namen auf dem Beckengrund zu finden sind? Weitere Teile der Serie zu den Lost Places im Altkreis Halle Steinhagens Verstecktes Geheimnis: Einblicke in den unterirdischen Bunker Relikte des Kalten Krieges: Borgholzhausens Atomraketen-Basis Halles Verborgene Zuflucht: Die Schutzhöhlen am Teutoburger Wald Das Rätsel von Borgholzhausen: Eine Straße, die ins Nirgendwo führt Halles Verstecktes Erbe: Die Geschichte des jüdischen Friedhofs Güterslohs Vergessene Villa: Ein Einblick in die verlassene Flughafen-Villa Steinhagens Versunkene Erinnerungen: Das vergessene Freibad im Wald Wichlinghausens Geheimnisvolle Ruine: Die Geschichte hinter den verfallenen Mauern Borgholzhausens Dunkle Vergangenheit: Der Lost Place als Zeuge einer schlimmen Zeit Steinhagens Skandalöse Vergangenheit: Das ehemalige Bordell im Fokus Geheimnis um Borgholzhausener Ruine: Auf den Spuren der Geschichte am Steinbruch Borgholzhausens Vergessenes Erbe: Entdeckung des verschollenen Felsenkellers

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