Chemie-Studentin aus Werther gründet Rattenhilfe-Verein in OWL

Außergewöhnliches Projekt: Chemiestudentin Vivian Baumert kümmert sich um Großnotfälle mit geschundenen Geschöpfen. „Die verantwortungslosen Halter verursachen oft schlimmes Tierleid“, beklagt sie

27.09.2019 | 30.09.2019, 12:51

Werther-Theenhausen. „Mädels sind tendenziell aufgedrehter als Männchen", Vivian Baumert, Masterstudentin der Chemie, beherbergt und beobachtet bereits seit neun Jahren domestizierte Farbratten. Die Studentin, die als 14-jähriger Teenager im Elternhaus keine Haustiere wie einen Hund oder eine Katze halten konnte – ihre Mutter ist allergisch – fand heraus, dass die Haare der Farbratten keine Empfindsamkeit auslösen.

„Für mich sind das die besten Tiere, die werden so zahm. Sie spielen, kuscheln, streiten und unterhalten sich wie Fledermäuse per Ultraschall. Es sind sehr soziale Tiere, entwickeln krasse Rudelstrukturen, die sie immer wieder ausfechten müssen."

An Action fehlt es der Theenhausenerin nicht, sie meistert ihren Alltag aktuell mit 20 Ratten, die sie artgerecht und medizinisch korrekt versorgt. Unter dem Dachverband des Vereins für Rattenliebhaber und -halter in Deutschland (VdRD) hat sie zusammen mit einer Freundin im April 2019 die Rattenhilfe Teutoburger Wald (RHTW) gegründet.

Vermittlung aus bundesweiten Großnotfällen

Baumert ist als offizielle Pflegestelle für die Bielefelder und Hildesheimer Tierheime tätig. In den letzten vier Jahren hat sich die aktive »Rattenmama« um mehr als 150 Pflegetiere gekümmert, die bei ihr ein- und ausgegangen sind. Momentan päppelt sie ein Dutzend Farbratten auf, die ihr aus bundesweiten Großnotfällen vermittelt worden sind.

Frisches Domizil: Drei domestizierte Farbratten erholen sich in ihrem komfortablen Refugium bei Vivian Baumert. - © Edwin Rekate
Frisches Domizil: Drei domestizierte Farbratten erholen sich in ihrem komfortablen Refugium bei Vivian Baumert. (© Edwin Rekate)

Die überwiegende Zahl der Asylfälle stammt aus Beschlagnahmungen der Veterinär- und Ordnungsämter, die Razzien bei verantwortungslosen Futtertierzüchtern und Menschen durchführen, die eine hohe Anzahl an Haustieren (Stichwort: Animal Hoarding) horten.

„Die verantwortungslosen Halter verursachen oft schlimmes Tierleid. Sie sorgen nicht für artgemäße Nahrung, ausreichende Hygiene und tierärztliche Versorgung. Den so vernachlässigten Ratten geht es denkbar schlecht", erklärt Vivian Baumert, die diese Verantwortung übernimmt und die possierlichen Nager gesund pflegt.

Zeitungen als Unterlage der Ratten-Wohnungen

Die Tierarztkosten für eine Farbratte schlagen für einen Check mit 60 bis 100 Euro zu Buche, Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen kosten 150 Euro, eine Kotprobe, um mögliche Parasiten zu diagnostizieren, 20 Euro. Bei einer späteren, erfolgreichen Vermittlung einer Ratte wird eine Schutzgebühr von neun Euro erhoben, das deckt nicht einmal ansatzweise den Unterhalt von Kost und Logis. Deshalb gibt Vivian Nachhilfestunden in Mathe, Chemie, Biologie, Philosophie und Erziehungswissenschaften und jobbt zusätzlich als Kellnerin.

Und sie telefoniert mit dem Haller Kreisblatt, mit der Bitte, alte Zeitungen gespendet zu bekommen. Damit legt sie die Domizile der Farbratten aus, diese zerfetzen das weiche, bedruckte Papier und bauen sich aus dem informativen Lesestoff kuschelige Nester.

Die Studentin, die in ihrem Ratten-Hospiz auch alte und kranke Tiere aufnimmt und liebevoll pflegt, und mit ihrem ehrenamtlichen Engagement die völlig überforderten Tierheime entlastet, ist hoch motiviert, das Schicksal der Farbratten zu verbessern. Deshalb forscht sie auch professionell und möchte Alternativmethoden zu Tierversuchen entwickeln.

Legendäre Märchenstory: Copper aktualisiert die Geschichte vom berühmten Rattenfänger von Hameln. - © Edwin Rekate
Legendäre Märchenstory: Copper aktualisiert die Geschichte vom berühmten Rattenfänger von Hameln. (© Edwin Rekate)

„Contergan ist damals an Laborratten getestet worden, hat aber bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft Schädigungen in der Wachstumsentwicklung der menschlichen Föten hervorgerufen", bemerkt die Chemikerin, die betont, dass der Stoffwechsel bei den Versuchstieren und den Menschen ganz verschieden ist.

Am meisten bedauert Vivian Baumert eines: dass die Farbratten, die „völlig anders drauf sind" als ihre ursprünglichen Vorfahren, noch nicht so angenommen werden wie andere Haustiere.


Fruchtbar und sensibel

Die Farbratte (Rattus norvegicus forma domestica) stammt von der wilden Wanderratte ab und ist durch Züchtung den Anforderungen als Haustier angepasst worden. Etwa anfangs des 20. Jahrhunderts begann die Domestikation, fahrende Zirkusleute und Schausteller entdeckten Albinos für sich und stellten sie aus.

Später wurden die Tiere für Labore und Versuchstierinstitute gezüchtet, was ihnen den Namen »Laborratte« einbrachte. „Die Farbratten sind sensible Tiere, sie können nur Temperaturen zwischen 18 und 22 Grad Celsius, keinen Wind oder Luftzug ab, genauso wenig wie Sonnenschein", erklärt Vivian Baumert, die bei höheren Temperaturen nasse Handtücher über die Nagerkäfige in ihrem speziell eingerichteten Rattenzimmer legen muss. „Über 22 Grad hängen die richtig durch."

Als Forschungsratten wurden ihnen körperliche Schwächen wie Epilepsie, Schiefkopf infolge von Mittelohrentzündungen oder Herzprobleme angezüchtet. Da diese vom Menschen künstlich erschaffenen Erkrankungen häufiger auftreten können, benötigen betroffene Tiere eine intensive medizinische Behandlung.

Ein weiterer, ernst zu nehmender Punkt ist ihre Fruchtbarkeit, denn wer geschlechtsreife Weibchen (6 bis 8 Wochen alt) und Rattenböcke (4,5 bis 5 Wochen alt) nicht trennt, wird sehr schnell ganz viel Nachwuchs bekommen: Ein Rattenweibchen kann alle drei Wochen drei bis 15 Rattenbabys bekommen.

Eine Wildratte legt in der Natur pro Tag 20 Kilometer zurück, ihre domestizierte Verwandte, bei der es mehr als 20 verschiedene Fellzeichnungen gibt, hat ebenfalls diesen Bewegungsdrang und braucht daher pro Tag wenigstens eine Stunde Auslauf in einem Laufstall.

Alle Infos, die Farbratten-Liebhaber und solche, die es werden möchten, beachten müssen, finden sie auf der Homepage www.rattenhilfe-tw.de.