Selbsthilfe in Steinhagen

Diagnose Depression: Lachen erlaubt in der Steinhagener Selbsthilfegruppe

André Bornhütter und Melanie Hantusch sprechen über ihre Depression. Familie und Freunde von Betroffenen machen ihrer Erfahrung nach vor allem einen großen Fehler.

Melanie Hantusch und André Bornhütter leiten die Steinhagener Selbsthilfegruppe "Aufrecht". Die funktioniert auch ganz gut ohne Stuhlkreis. | © Frank Jasper

Frank Jasper
03.11.2025 | 03.11.2025, 08:12

Steinhagen. Für zwei Depressive haben André Bornhütter und Melanie Hantusch an diesem Abend ziemlich gute Laune. Dieser Satz ist natürlich eine absolute Zumutung. Andererseits macht er deutlich, wie vorurteilsbeladen Außenstehende auf depressive Menschen mitunter zugehen. Und er lässt erahnen, mit welchen Klischees sich Betroffene herumschlagen müssen. Im Verlauf des Gesprächs werden André Bornhütter und Melanie Hantusch noch ein Liedchen davon singen.

Wir sitzen in einem Mehrzweckraum des Matthias-Claudius-Hauses in Steinhagen. Den Raum nutzt das Altenzentrum als Begegnungsort, aber auch externe Gruppen treffen sich hier. Unter anderem die Selbsthilfegruppe „Aufrecht“, die von André Bornhütter und Melanie Hantusch geleitet wird. Sie wendet sich an Menschen mit Depression und Ängsten.

Die Tische sind zu einem Block zusammengeschoben. Und genauso bleiben sie auch stehen. „Kein Stuhlkreis!“, wirft André Bornhütter augenzwinkernd in den Raum. Na klar: Selbsthilfegruppen sitzen in einem Stuhlkreis. Noch so ein Klischee.

Depression noch immer ein gesellschaftliches Tabu

Obwohl laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe 5,3 Millionen der erwachsenen Deutschen - das sind immerhin 8,2 Prozent der Bevölkerung - im Laufe eines Jahres an einer unipolaren oder anhaltenden depressiven Störung erkranken, ist Depression noch immer ein Tabuthema. „In unserer Gesellschaft gilt es, stark zu sein und möglichst keine Schwächen zu zeigen“, sagt André Bornhütter. Eine Depression sei vor diesem Hintergrund wie ein Stigma, weiß der 51-Jährige. „Das gilt für Männer noch mal etwas mehr als für Frauen. Frauen bekennen sich in der Regel auch eher zu einer Depression, und sie suchen sich eher Hilfe“, fügt er hinzu.

André Bornhütter hat 2016 die Diagnose Depression erhalten. „Unter den Symptomen leide ich aber schon viel länger“, sagt er. „Ich habe an nichts mehr Interesse gehabt und bin nicht mehr vor die Tür gegangen. Sogar mein geliebtes Motorrad habe ich stehen gelassen. Es gab einen Sommer, den ich komplett zu Hause verbracht habe“, erinnert sich der gelernte Kfz-Mechaniker.

Melanie Hantusch nickt. Den Zustand, den André Bornhütter beschreibt, kennt die 47-jährige Amshausenerin nur zu gut aus eigener Erfahrung. „Durch ein unschönes Erlebnis in meiner Jugend habe ich Ängste entwickelt, aus denen ich keinen Ausweg mehr gesehen habe. Auch ich kam tagelang nicht mehr aus dem Bett“, schildert sie ihr Krankheitsbild. Als sie 19 Jahre alt war, diagnostizierten die Ärzte bei ihr eine Depression. „Es war zwischenzeitlich richtig schlimm. Mir war alles egal“, erzählt die Mutter von zwei Kindern. Auch körperlich baute sie ab. „Mich hätte eine blinde Schnecke mit Krückstock überholt.“

Comedian Torsten Sträter macht seine Erkrankung öffentlich

Wer an Depression leidet zieht sich oft zurück und findet kaum noch Kraft, den Alltag zu bewältigen. - © Fabian Sommer/dpa
Wer an Depression leidet zieht sich oft zurück und findet kaum noch Kraft, den Alltag zu bewältigen. (© Fabian Sommer/dpa)

Beide mussten die Erfahrung machen, dass die Versorgungslage für Menschen mit Depression angespannt ist. In der Akutphase erhalte man zwar schnell einen Platz in einer Klinik, die Suche nach einem Therapeuten koste Betroffene aber oft viel Anstrengung und vor allem: Zeit. „Die Wartelisten sind lang“, berichten beide übereinstimmend. Und gerade für Menschen mit einer Depression könne die Suche nach einem Therapeuten eine riesige Herausforderung sein. Auch die richtige medizinische Behandlung zu finden, sei nicht einfach. „Es gibt eben nicht die eine Pille, die das Leben wieder schöner macht“, sagt André Bornhütter.

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Hinzu komme, dass Menschen mit Depression häufig in ihrem engsten Umfeld auf Unverständnis stoßen. „Dann hört man von Familienmitgliedern oder Freunden so Sätze wie ’Reiß dich mal zusammen’ oder ’Jetzt lach doch mal’“, weiß André Bornhütter. An der Stelle fällt ihm noch ein Beispiel aus dem Programm von Torsten Sträter ein. Der Comedian hatte vor einigen Jahren seine eigene Depression öffentlich gemacht und nutzt seitdem seine Bekanntheit, um das Thema zu enttabuisieren. „Das wird schon wieder“, gab man dem Komiker mit auf dem Weg. Der fragt sich: „Was wird schon wieder was?“

Richtig schlimm sei es für Betroffene, wenn ihre Erkrankung nicht ernst genommen werde. „Wenn der Verdacht im Raum steht, dass die Depression nur vorgeschoben ist“, erklärt André Bornhütter. „Bei einem gebrochenen Bein sieht man den Gips. Bei einer gebrochenen Seele sieht man: nichts.“

Wie Steinhagener Selbsthilfegruppe Betroffenen hilft

Statt Vorwürfen und gut gemeinter Ratschläge sei vor allem Verständnis wichtig, hebt André Bornhütter hervor. Melanie Hantusch ergänzt: „Die Familie und Freunde sollten es einfach akzeptieren, wenn man einfach mal keine Lust auf andere Menschen hat.“ Andernfalls würden sich Depressive immer mehr aus Freundeskreisen zurückziehen.

Kraft und Zuversicht finden Melanie Hantusch und André Bornhütter in der Steinhagener Selbsthilfegruppe. Seit rund zwei Jahren treffen sich die Gruppenmitglieder alle 14 Tage mittwochabends im Matthias-Claudius-Haus. „Wir können natürlich keinen Therapeuten ersetzen, aber wir können Mut und Verständnis vermitteln“, sagt André Bornhütter. „Und wir lernen voneinander, was einem nach vorne bringt.“

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Auch Melanie Hantusch profitiert von der Gruppe. „Wir begegnen uns hier auf Augenhöhe und nicht von oben herab. Das tut gut. Hier ist Platz fürs Lachen, aber eben auch für Traurigkeit.“ Beide haben bis heute mir ihrer Depression zu kämpfen. „Ich bin so weit stabil, aber es gibt noch immer schlechte Phasen“, sagt André Bornhütter. „Man muss lernen, damit zu leben. Und man muss aufpassen, dass die schlechten Phasen nicht so schlimm werden.“

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Für neue Mitglieder ist die Gruppe „Aufrecht“ in Steinhagen offen. Für einen ersten Kontakt empfehlen die beiden Leiter eine E-Mail: aufrecht-owl@web.de. Online ist die Gruppe erreichbar unter: www.selbsthilfegruppe-aufrecht.de.

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