Mit Baby im Chefsessel: Großes Interview mit Steinhagens Bürgermeisterin

Steinhagen. Die Gemeinde hat ein volles Jahr hinter sich. Die weltweiten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen werfen auch hier ihre Schatten, gleichzeitig hat sich das Rathaus außergewöhnliche Baustellen aufgebürdet. Gerade wird auf Hochtouren die Bundestagswahl in zwei Monaten vorbereitet. Und nicht zuletzt: Die Bürgermeisterin ist kürzlich Mutter geworden. Im Jahresinterview spricht Sarah Süß über ihre Doppelrolle, ihren sorgenvollen Blick auf die Weltlage und darüber, was ihr Hoffnung macht. Wie hat sich ihr privater und beruflicher Alltag durch Oliver verändert? Sarah Süß: Komplett (lacht). In den ersten Wochen dreht sich ja alles nur um Milch und Windeln. Mittlerweile haben wir einen ganz guten Rhythmus. Aber trotzdem: Man ist ja auf einmal für so ein kleines Wesen verantwortlich, plötzlich ... das ist schon verrückt. Es ist das Schönste und Anstrengendste, dass es gibt - zugleich. Die Veränderungen gelten sicher auch für den Alltag im Rathaus ... Süß: Seit dem Weihnachtsmarkt bin ich wieder richtig im Dienst. Wir haben ja von Anfang an gesagt, wir teilen uns das gleichberechtigt auf. Mein Mann und ich bleiben beide berufstätig, machen beide den Haushalt und kümmern uns beide um das Kind. Er hat reduziert und ist tageweise zu Hause. Bei mir geht das nicht so ohne Weiteres. Wie funktioniert denn das Muttersein als Bürgermeisterin? Süß: Das ist ganz spannend. Wir mussten uns da ganz viele rechtliche Fragen stellen. Zum Beispiel: Kann ich während des Mutterschutzes den Gemeinde-Haushalt einbringen? Der Mutterschutz ist ja faktisch ein Beschäftigungsverbot. Aber ich bin ja keine Beschäftigte in dem Sinne, ich bin ja immer im Dienst. Als Wahl-Beamtin habe ich keine klassische Arbeitszeit. Man ist 24/7 Bürgermeisterin. Auch im Positiven, weil es recht flexibel ist. Es ist aber offenbar auch noch etwas Besonderes, als Bürgermeisterin Mutter zu sein ... Süß: Es gibt ja kaum Beispiele. Kaum Frauen als Verwaltungschefin und erst recht keine Frauen mit kleinen Kindern. Das muss einfach mal jemand machen. Aber es gibt durchweg positives Feedback. Wenn ich irgendwo hingehe und bringe Oliver nicht mit, dann sind die Leute schon enttäuscht. &bdquo;Wo isser denn?“ Es ist eigentlich ganz witzig. Und im Rathaus sind wir auch total gut aufgenommen worden. Alle freuen sich, wenn er da ist. Ganz viele Aushilfsväter und -mütter? Süß: Genau. Es wird mit Sicherheit auch Tage geben, wo es überhaupt nicht funktioniert. Aber in welcher Familie gibt es die nicht. Es ist schon eine Herausforderung. Gerade jetzt zum Jahresende. Das muss sich noch etwas eingrooven. Aber auch Oliver ist recht flexibel. Der kann schon mal einen Tag zu Hause beim Papa verbringen. Dann gibt es halt Fläschchen. Thema Zuhause: Sie wohnen zur Miete. Ein Häuschen in Steinhagen wäre doch eine gute Investition. Süß: Gerne, wenn sich das Richtige findet. Wir wohnen aber auch sehr gerne in unserem Haus. Es passt sehr gut zu unseren Bedürfnissen. Aktuelle News bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal des HK Noch eine ganz wichtige Frage: Sind die Katzen eigentlich eifersüchtig? Süß: Teils teils. Die eine ist ein bisschen eifersüchtig, sie mag zumindest nicht, wenn er brüllt. Die andere ist sehr fürsorglich. Die legt sich dazu, kuschelt sich an und will trösten, wenn er schreit. Wenn wir ihn abends ins Bett bringen, liegt immer irgendwo eine Katze, die aufpasst. Mal ein etwas weiterer Blick: Wo sehen sie sich in 20 Jahren? Süß: In 20? Oder in zehn? Sie wohnen weiter in Steinhagen, bleiben Bürgermeisterin, Oliver geht zum Gymnasium ... Süß: Von mir aus auch zur Realschule, aber ja. Das ist der Plan. Mit dem Kind hat sich die Perspektive noch erweitert. Man fragt sich ja, woran wird er später mal Freude haben? Wird er irgendeinen Sport machen? Und dann merkt man, dass man in Steinhagen so viele Möglichkeiten hat. Ob er jetzt Pfadfinder werden will, zur Kinderfeuerwehr geht oder Handball spielt. Es ist einfach gut, hier mit Familie zu leben. Man kann in fünf Minuten im Wald sein, aber auch in einer Viertelstunde in der großen Stadt. Wir haben jetzt mehr als zehn Minuten über Privates gesprochen. Für ein Bürgermeister-Interview relativ viel. Stört Sie das eigentlich nicht? Einen Mann würde man solche Dinge ja eher nicht fragen. Süß: Eigentlich nein, gar nicht. Aber wahrscheinlich ist das so. Der Bürgermeister von Verl ist ja auch gerade Vater geworden. Den werde ich bei Gelegenheit Mal ansprechen, ob er auch gefragt wird &bdquo;Wo ist das Kind?“, wenn er alleine unterwegs ist. Es nervt mich nicht, aber ich finde es manchmal erstaunlich, dass das noch nicht normal ist. Carolin Kebekus hat ja gerade gesagt, Männer werden schon gefeiert, wenn sie den Schnuller ins richtige Loch kriegen, während Frauen grundsätzlich alles falsch machen. Geht man arbeiten, ist es nicht richtig, ob man stillt oder nicht, ist eigentlich beides nicht richtig. Aber für mich ist das Feedback total positiv. Die Leute sagen schon: &bdquo;Es ist ja unser aller Baby, unser Dorf-Baby!“ Wir machen mal einen Sprung. Wir leben in einer schwierigen Zeit: Trump, Putin, Ukraine, Naher Osten. Der gemeinsame Nenner ist vielleicht, dass die Demokratie unterminiert wird von radikalen Menschen. Das schlägt sich ja auch in Deutschland nieder, zum Beispiel in Form der AfD. Diese Wut und dieses Auseinanderbröseln der Gesellschaft, merken sie das in Steinhagen? Süß: Es hat schon Vorfälle gegeben, wie, dass eine Regenbogen-Flagge oder eine israelische Flagge abgerissen wurden. Auch Pastorin Schumann wurde kritisiert für die Mahnwache. Es gibt Stimmen. Mir macht das schon Angst, gerade weil wir wissen, dass Menschen hier AfD wählen, und das nicht zu knapp. Aber ich nehme auch wahr, dass Steinhagen eine sehr starke Gemeinschaft hat, und das ist demokratiefördernd. Wenn man sieht, wie viele Menschen zur Vielfaltsdemo gegangen sind oder auch wie viele Menschen sich beim Weihnachtsmarkt für das Gemeinwohl einsetzen, das stärkt auch eine Demokratie. Die AfD wird immer stärker. Auf Landes- und Bundesebene müssen sich die Parteien damit auseinandersetzen. Es wird über Bündnisse gesprochen. Ist es auf kommunaler Ebene immer noch die richtige Herangehensweise, den Rechten keinen Raum zu bieten? Süß: Über Bündnisse mit den Rechten darf man gar nicht nachdenken. Ich finde es gut, dass hier die demokratischen Parteien geschlossen agieren und dass man zeigt, diese Partei ist keine &bdquo;Alternative“. Wenn da im Rat mal Anträge kommen, was wird denn dann gefordert? Dass beim Sozialen oder bei der Integration gestrichen wird, auf Kosten der Schwachen. Unser anderes großes Problem in Deutschland ist gerade die Wirtschaftskrise. Schaeffler hat angekündigt, dass in Deutschland 2.800 Stellen zur Disposition stehen. Glauben Sie, dass wir in Steinhagen die Krise noch stärker zu spüren bekommen? Süß: Was die Gewerbesteuer angeht, haben wir dieses Jahr wieder sehr gut abgeschnitten. Auch während Corona sind wir - was das angeht - mit einem blauen Auge davon gekommen. Wir sind Wirtschaftsstandort Nummer eins im Nordkreis. Wir werden den geplanten Ansatz an Gewerbesteuer in diesem Jahr um etwa 5,7 Millionen Euro überschreiten. Das ist eine sehr, sehr gute Entwicklung. Aber das kann sich genauso schnell ins Negative entwickeln. Wie sich die Wirtschaft global entwickelt, darauf haben wir keinen Einfluss. Was es ausmacht, dass Trump jetzt US-Präsident wird? Ich weiß es nicht. Aber es macht schon Sorgen. Steinhagen hat mittelfristig Projekte in der Größenordnung von 50 Millionen Euro vor der Brust ... Süß: Mehr als 50 Millionen, ja. Und das sind ja alles keine Optionen. Dass wir die Grundschule Brockhagen neu bauen müssen, ist klar, dass wir das Gymnasium erweitern müssen, ist klar. Das ist schon außergewöhnlich. Ich glaube, es hat noch nie in einem so kurzen Zeitraum so hohe Investitionen gegeben. Angesichts all’ der großen Aufgaben und weltweiten Probleme. Was macht Ihnen Hoffnung? Süß: Oliver macht mir Hoffnung, klar. Wenn man im Moment die Nachrichten guckt: Es ist alles schlimm. Manchmal kann man es gar nicht mehr ertragen. Aber, wenn man mal an all’ die Veranstaltungen denkt, die wir in diesem Jahr in Steinhagen hatten. Da war nie ein Zwischenfall dabei, alles war friedlich. Das macht Hoffnung, wenn man sieht, wie viele Menschen bereit sind, sich für das Gute hinzustellen und einzusetzen. Das ist Zusammenhalt für das Gemeinwohl.

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