Borgholzhausen. Am Abend des 1. November 2024 bricht ein Senior (90) mit seinem Pkw zu einem Treffen des Heimatvereins Borgholzhausen auf und kommt nicht wieder nach Hause. Eine Woche später findet eine Gruppe von Jägern den 90-Jährigen tot in einem Graben. Im März 2023 kollidiert ein 67 Jahre alter E-Bike-Fahrer bei Dunkelheit auf einem Radweg in Halle mit einem Poller. Wenige Tage später erliegt er seinen schweren Verletzungen.
Immer wieder verschwinden ältere Menschen. Zuletzt geschehen im Kreis Gütersloh am Silvesternachmittag 2024, als sich ein dementer 82-Jähriger unbemerkt aus einem Gütersloher Seniorenheim entfernt.
Diese schlimmen Ereignisse werfen viele Fragen auf: Hätten Unglücke wie diese verhindert werden können? Wie kann man ältere Menschen vor Unheil beschützen? Wie viel Schutz und Hilfe sind nötig - und gewollt? Müsste die Gesellschaft an dieser Stelle wachsamer sein? Lässt sich aus den tragischen Unglücksfällen etwas lernen?
Lagerbildung beim Lebensbaum in Werther
Ein Gedankenaustausch abseits der vorliegenden Fälle. Ein Gedankenaustausch mit Menschen, die zu diesem Thema nach eigenem Bekunden „sicher keine Patentlösung haben“, aber „einen gesunden Menschenverstand“, „ein paar Erfahrungswerte“ und „möglicherweise sinnvolle Ideen“.
Sybille Florschütz, Geschäftsführerin des Lebensbaums in Werther, gesteht gleich zu Gesprächsbeginn: „Das ist ein wirklich schwieriges Thema. Selbst bei uns im Team gibt es in dieser Beziehung eine Lagerbildung: Team Freiheit und Team Sicherheit.“
Florschütz, 62 Jahre alt, zählt sich zur Fraktion Freiheit. „Das Leben ist gefährlich und mit Risiken behaftet. Die kann ich nun mal nicht gänzlich ausschließen“, sagt sie: „Ich für meinen Teil möchte nicht rund um die Uhr überwacht oder eingesperrt werden. Freiheit und Selbstständigkeit machen für mich Lebensqualität aus.“
Einsatz von Notruf-Systemen und GPS-Trackern ist sinnvoll
Heike Heidrich berichtet aus ihrem Berufsalltag, dass „die Bedürfnisse von jung und alt oft sehr unterschiedlich sind und es bisweilen sogar konträre Wahrnehmungen gibt.“ Was für die einen „unbedingt notwendig“ sei, sei für die anderen „gänzlich überflüssig“. Eine kniffelige Gratwanderung. Heike Heidrich organisiert als Pflegeberaterin bei der Stadt Borgholzhausen Unterstützung und Hilfe im Alter: in gesundheitlichen Belangen, bei der Pflege, manchmal auch Besuchsdienste für Alleinstehende.
Zum Thema: Tipps für Weihnachten mit Demenzerkrankten: So vermeiden Familien Streit
Sie nennt Beispiele: „Wann muss mein Vater seinen Führerschein abgeben?“, „Sind meine Eltern noch in der Lage, in ihrem Eigenheim zu wohnen?“, „Muss das Bad behindertengerecht umgebaut werden?“, „Brauchen wir eine Haushaltshilfe?“ oder: „Wie lange kann ich meine demenzkranke Mutter alleine lassen?“.
Aktuelle News bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal des HK
Wenn es um Mobilität geht, gelte es, gewisse Situationen genau abzuwägen. Sybille Florschütz spricht vom Einsatz von Notruf-Systemen, GPS-Trackern und ähnlichen technischen Gerätschaften. „Die sind absolut sinnvoll, insbesondere, wenn sie die Menschen nicht einschränken, sondern ihnen Hilfe im Alltag leisten“, betont die Geschäftsführerin des Lebensbaums. Eine Total-Überwachung hingegen, zum Beispiel mit Babyfonen oder Kameras, findet sie „ganz schrecklich“ und lehnt sie strikt ab.
Lebensbaum Werther macht täglich viele Hausbesuche
Steffen Heidmann, Leiter des Borgholzhausener Ordnungsamtes, plädiert für eine „enge Betreuung“ und ein „Sich-Kümmern“ in der Familie. Als Enkel einer Großmutter helfe oft schon das Angebot: „Oma, ich fahr dich da oder dorthin.“ Allerdings funktioniere dies lediglich bei intakten Familien-Strukturen. Bei alten, einsamen Menschen, dazu noch ohne Netzwerk, sei oft guter Rat teuer.
Sybille Florschütz verlangt in diesem Zusammenhang: „Unsere Gesellschaft muss es leisten können, dass ältere und kranke Menschen mindestens einmal am Tag einen sozialen Kontakt haben. Jemand, der nach ihnen fragt und sich erkundigt, wie es ihnen geht.“ Der Lebensbaum stellt dies bei seinen Kunden schon aufgrund seiner Geschäftsidee sicher. „Wir fahren fast alle unsere Personen einmal am Tag an“, so Florschütz.
Viel besser wäre es jedoch, wenn jeder ein familiäres oder privates Netzwerk oder beides hätte, das einen täglichen Austausch garantiere. „Das können Telefonketten sein, die Stippvisite der Nachbarin oder die Nachfrage der Kinder“, zählt Florschütz auf.
Poller-Erlass nach tödlichem Unfall in Halle
Sie regt an: „Städte und Gemeinden könnten alle Menschen, die älter als 80 Jahre sind, anschreiben und sie auf Angebote und Hilfsmöglichkeiten hinweisen.“ Denn nur bei der Verwaltung seien die Daten dafür vorhanden.
Ralf Vieweg, Allgemeiner Vertreter des Borgholzhausener Bürgermeisters, bringt zudem die Volkshochschule ins Spiel, unter anderem um Senioren an Handys zu gewöhnen und mit der neuen Technik vertrauter zu machen. Ferner würde er sich vom Gesetzgeber wünschen, dass der im Bezug auf den Führerschein ab einem gewissen Alter einen regelmäßigen Sehtest und Gesundheitscheck vorschreibe.
Lesen Sie auch: Schlechter Schlaf im Alter? Das kann Ihnen helfen
Eine „Überregulierung“ und einen „Überaktionismus“ wie nach dem oben geschilderten E-Bike-Unfall in Halle und dem daraus resultierenden „Poller-Erlass“ halte er jedoch für unangebracht. Im Zuge des tödlichen Unfalls sind alle Städte in NRW aufgefordert worden, sämtliche Poller zu überprüfen und gegebenenfalls abzubauen.
Wünsche, Bedürfnisse, Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung
Beim richtigen Umgang miteinander nimmt Sybille Florschütz explizit beide Generationen - jung und alt - in die Pflicht. „Eine regelmäßige Kommunikation mit Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten sorgt nicht nur für mehr Lebensqualität, sondern auch für mehr Sicherheit.“
Sie rät: „Optimalerweise sprechen die Älteren früh und rechtzeitig mit den Jüngeren über Entwicklungen und Wünsche in der Zukunft und formulieren ihre Bedürfnisse.“ Im besten Fall münde so ein Prozess in verlässlichen Absprachen für den Alltag - und weitreichender: möglicherweise in einer Vorsorgevollmacht oder einer Patientenverfügung.
Sybille Florschütz sähe diese Form des achtsamen und fürsorglichen Umgangs liebend gerne in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Familie und bei Bekannten: „Wenn ich auf der Straße jemanden treffe, der scheinbar Probleme hat oder in Schwierigkeiten steckt, dann frage ich ihn doch, ob es ihm gut geht und ob ich ihm helfen kann.“ Eine Selbstverständlichkeit - nicht nur in der Adventszeit und zu Weihnachten.

