Verlust des Wohlstands droht: Sind die Deutschen zu faul?

Das Bild vom gut bezahlten Angestellten im Homeoffice hat sich festgesetzt: Auch bei wirklich wichtigen Besprechungen schaltet er Bildschirm und Mikrofon aus, legt die Beine hoch, wahlweise spielt er nebenbei Candy-Crush oder surft durch seine Lieblings-Webseiten. Das Inbild einer angeblich erodierenden Arbeitsmoral. Dazu der Slogan: &bdquo;Wir brauchen wieder mehr Bock auf Arbeit“. Der frühere Arbeitgeber-Präsident Steffen Kampeter hat den Appell, der ins Sortiment der feststehenden Redewendungen eingegangen ist, vor etwa zwei Jahren in die Welt gesetzt. Seither hat es viele Paraphrasierungen gegeben: &bdquo;Wir müssen wieder lernen, härter zu arbeiten“ (Christian Sewing, der Chef der Deutschen Bank), &bdquo;Ärmel hochkrempeln“ (Ola Källenius, Mercedes-Chef). Zuletzt hat Allianz-Chef Oliver Bäte die Einführung eines unbezahlten Karenztages im Krankheitsfall gefordert – mit dem Ziel, vermeintlich notorischen Blaumachern in Zeiten der Wirtschaftskrise das Lotterleben schwerer zu machen. Forderung nach unbezahlten Karenztagen: &bdquo;Grob fahrlässig“ Bäte hat für seinen Vorstoß viel Kontra bekommen. So auch von Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts IMK: &bdquo;Das sind keine Themen, die die Probleme der deutschen Wirtschaft lösen.“ Die Gefahr, dass Beschäftigte mit Symptomen am Arbeitsplatz andere anstecken, werde von Karenztags-Befürwortern überhaupt nicht mehr diskutiert. Auch der Befund, dass die Deutschen heute insgesamt weniger arbeiten als früher, ist für den Wirtschaftswissenschaftler &bdquo;nicht nachweisbar“. Dullien räumt zugleich aber ein: &bdquo;Der Wunsch, weniger zu arbeiten, ist ganz normal. Dies haben wir historisch immer wieder beobachtet.“ Mit einem höheren Einkommen pro Stunde wachse das Bedürfnis nach mehr Freizeit. Wer zwölf Stunden arbeiten müsse, um Essen und die Wohnung zu bezahlen, der wolle nicht weniger arbeiten. &bdquo;Wer aber mit sechs Stunden seinen Lebensstandard halten kann, der will mehr Zeit haben, um das Geld auszugeben“, sagte der IMK-Chef dieser Redaktion. Rückkehr ins Büro – New-Work-Age ist vorbei Da schimmert &bdquo;New Work“ durch. Das Konzept einer neuen Arbeitswelt, das die Bedürfnisse der Beschäftigten ernst nehmen will. Technisch umsetzbar mittels Digitalisierung, was flache Hierarchien mit agilen, selbstständig arbeitenden Teams, vor allem eine bessere Work-Life-Balance und maximale Flexibilisierung der Arbeit ermöglichen soll – natürlich im Homeoffice. Der Höhepunkt des New-Work-Age war vor drei, vier Jahren. Inzwischen gibt es einen heftigen Rollback. Hierzulande hat sich ironischerweise der Hightech-Konzern SAP an die Spitze der Bewegung gesetzt. Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) verteidigt solche Maßnahmen. Er sagte der Redaktion: &bdquo;Es gibt Arbeitgeber, die Wert darauf legen, dass die Beschäftigten im Büro sind. Das ist berechtigt, zum einen rein rechtlich, zum anderen aber auch nachvollziehbar, weil Innovationen und neue Ideen häufig dadurch entstehen, dass Menschen miteinander reden.“ Jean-Victor Alipour vom Münchner Ifo-Institut bestätigt diese Diagnose: &bdquo;Selbst in hoch digitalisierten Branchen geht Feedback zwischen Beschäftigten durch Vollzeit-Remote deutlich zurück“. Häufiger bildeten sich &bdquo;Kommunikations-Silos“, weil weniger über Teamgrenzen hinweg kommuniziert werde. &bdquo;So sieht man beim Wechsel ins Vollzeit-Homeoffice in der Regel Rückgänge der Produktivität.“ Bei Statistiken zur Arbeitsmoral ist Vorsicht geboten Doch zur Wahrheit gehört auch: Bei hybriden Homeoffice-Modellen gebe es neutrale Effekte bis leichte Produktivitätsverbesserungen. Das scheine sogar im Öffentlichen Dienst der Fall zu sein, wo es keine Leistungsprämien und hohe Job-Sicherheit gibt – also auch Gelegenheiten fürs Beine-Hochlegen. Das Beispiel der modernen Heim-Arbeit zeigt, wie komplex die Dinge stehen, wenn man genauer wissen will, wie es die deutschen Werktätigen mit der Arbeitsmoral halten. Zudem ist bei Statistiken Vorsicht geboten. Der Industrieländer-Club OECD fügt seinen Erhebungen obligatorisch die Warnmeldung hinzu, dass Werte über Ländergrenzen hinweg häufig nur schwer vergleichbar seien, weil Arbeitsstunden unterschiedlich erfasst werden. Arbeitszeit deutlich unter dem OECD-Durchschnitt Faul oder fleißig? Für Schäfer, Experte für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim IW, zählt die Zahl der gearbeiteten Stunden je Einwohner und Einwohnerin im erwerbsfähigen Alter. Daran lasse sich erkennen, wie stark das Arbeitskräftepotenzial ausgeschöpft wird. &bdquo;Wenn wir das international vergleichen, dann liegen wir in Deutschland relativ weit hinten.“ Nach Schäfers Berechnungen kam Deutschland im Jahr 2022 auf 1.031 Arbeitsstunden je Einwohner und Einwohnerin zwischen 15 und 64 Jahren. Der OECD-Durchschnitt lag bei 1.216 Stunden. Dullien blickt anders auf die gesamtwirtschaftlich geleisteten Arbeitsstunden. Im Verhältnis zu der Kerngruppe der Erwerbsfähigen zwischen 25 und 65 Jahren sei zu erkennen: &bdquo;Seit dem Tiefpunkt 2003 geht es aufwärts.“ Unterbrochen durch einen Einbruch in der Corona-Zeit. Dass die Arbeitszeit aktuell zurückgehe, werfe die Frage auf, &bdquo;ob das den Entscheidungen von Beschäftigten geschuldet ist oder ob hier Kurzarbeit oder weniger Überstunden aufgrund von Auftragsschwund die Ursache sind“. Schäfers Perspektive reicht derweil noch erheblich weiter zurück: Der Zeitverlauf zeige, &bdquo;dass wir in den 1970er- und den 1980er-Jahren erheblich fleißiger waren, als wir es heute sind.“ Das waren aber noch die Zeiten der alten BRD. Viele Teilzeitarbeiter in Deutschland – vor allem Frauen Eine Tücke bei allen Statistiken ist, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern einen enorm hohen Anteil in der Kategorie Teilzeit hat. Das drückt den Durchschnitt. Auch in Umfragen unter Beschäftigten wird immer wieder das Phänomen der Unterbeschäftigung herausdestilliert. Dullien: &bdquo;Wir haben eine Gruppe, die mehr arbeiten will. Aber entweder räumt der Arbeitgeber die Möglichkeit dafür nicht ein, oder gerade bei Müttern fehlt es an Betreuungsangeboten für die Kinder.“ Hans-Jürgen Urban, Sozialvorstand der IG Metall, sieht ebenfalls massive Barrieren für weibliche Beschäftigte: &bdquo;Frauenfeindliche Firmenkulturen, Ungleichgewichte bei privater Care-Arbeit und mangelnde Betreuungsmöglichkeiten behindern die Erwerbsbeteiligung von Frauen.“ Schrumpfkurs durch Faulheit? Zugleich zeigen Befragungen auch, dass der Wunsch nach weniger Arbeit vor allem bei männlichen Beschäftigten mit voller Stelle ausgeprägt ist. Auch deshalb propagierte die IG Metall in der Vergangenheit die Einführung der 4-Tage-Woche. Doch rechtzeitig zur Tarifrunde im vorigen Jahr wurde diese Forderung kassiert, weil sie sich schon damals ob der lahmenden Konjunktur als nicht mehr durchsetzbar erwies. Gleichwohl sieht IW-Experte Schäfer nach wie vor ein &bdquo;starkes Bestreben, die Arbeitszeit zu reduzieren“, was aus seiner Sicht Gefahrenpotenziale birgt: Wegen einer wachsenden Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, weil deren Zahl wegen der demografischen Entwicklung sinke. Mit der Folge: &bdquo;Wir stellen weniger her und haben weniger von allem.“ Schrumpfen durch Faulheit? Muss das zwangsläufig so sein? Ist die Frage nach dem Fleiß womöglich falsch gestellt? Geht es letztlich gar nicht um die Zahl der Arbeitsstunden, sondern um das, was hinten rauskommt? Im New-Work-Konzept jedenfalls kommt es auf nichts anderes als &bdquo;Performance“ an: Warum sollen Talentierte und Kreative mit acht Stunden täglicher Bürohaft bestraft werden, wenn sie in drei, vier Stunden – womöglich mit hochgelegten Beinen – das leisten, wofür andere einen ganzen Arbeitstag brauchen. Produktivität geht zurück Ist Produktivität das Schlüsselwort? Die ist zum Beispiel auch in den Fabrikhallen bei VW gestiegen, als vor mehr als 30 Jahren wegen einer Absatzkrise 28-Stunden-Wochen eingeführt wurden. Allerdings wird es hier mit allgemeingültigen Aussagen ziemlich schwer. Dullien: &bdquo;Solche Phänomene sind nicht in der Breite übertragbar.“ Es kommt immer auf die spezifische Tätigkeit und die Lage im Betrieb an. Ferner: Wenn von Produktivität die Rede ist, muss sowieso attestiert werden, dass sie in der zurückliegenden Dekade im Jahresdurchschnitt nur noch um 0,7 Prozent gestiegen und in den vergangenen beiden Jahren sogar gesunken ist. Doch hier lohnt sich ebenfalls der genauere Blick: Es wirken &bdquo;strukturelle Verschiebungen“, wie Schäfer es formuliert. Das Gewicht der Industrie nimmt hierzulande ab, während Dienstleistungsbereiche wie das Gesundheitswesen wachsen. Doch ein Altenpfleger etwa kann seine Produktivität kaum steigern. Aber selbst diese Erklärung löst das Problem drohender Wohlstandsverluste nicht. Babyboomer gehen in Rente Zumal neben dem aktuellen konjunkturellen Durchhänger noch eine ungleich größere Aufgabe ansteht: der demografische Wandel. 2030 wird, laut IW-Berechnungen, der Höhepunkt der Babyboomer-Verrentung erreicht. Der Jahrgang 1964 mit 1,5 Millionen Personen ist dann dran. Diese müssen durch Jahrgänge ersetzt werden, die nur noch 700.000 bis 800.000 Personen stark sind. Das hiesige Arbeitskräftepotenzial könnte in den nächsten fünf Jahren um bis zu 4 Millionen Frauen und Männer schrumpfen. Für IW-Experte Schäfer steht deshalb fest, dass wir quasi gesamtgesellschaftlich fleißiger werden müssen: &bdquo;Die Arbeitszeit pro Kopf muss steigen.“ Etwa indem die Politik es älteren Jahrgängen attraktiver mache, weiterzuarbeiten: durch niedrige Steuern und Sozialabgaben. Enormes Potenzial sieht er aber auch im Riesenheer der Teilzeitbeschäftigten, die in Vollzeit gebracht werden müssten: &bdquo;Durch eine bessere Kinderbetreuung kann die Lage verbessert werden.“ Bringt es etwas, Senioren zu aktivieren? In puncto Senioren-Aktivierung winkt Urban ab. Da gebe es bereits Extra-Anreize. &bdquo;Nur macht das kaum jemand, weil die Allermeisten einfach durch sind mit Mitte 60.“ Das Gegenkonzept des IGM-Vorstands: gute Arbeitsbedingungen und Löhne, Arbeitszeiten, die zum Leben passen, Qualifizierung von Beschäftigten und Arbeitslosen, eine faire Fachkräfteeinwanderung. Und zusätzlich: &bdquo;Eine ausgebaute soziale Infrastruktur bei Pflege und Betreuung wirkt auch auf den Arbeitsmarkt und damit auf den Wohlstand.“

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