Kommentar

Kluge Wahl: Friedensnobelpreis wirft herausfordernde Fragen auf

Der Friedensnobelpreis geht an Überlebende der Atombombenabwürfe in Japan. Davon gehen wichtige Botschaften aus, direkt und indirekt, meint unser Autor.

Shigemitsu Tanaka, der 83-jährige Direktor des Rates der Atombombenüberlebenden von Nagasaki, vergießt eine Träne nach der Vergabe des Friedensnobelpreises. | © picture alliance/dpa/kyodo

Steven Geyer
11.10.2024 | 11.10.2024, 16:21

Es gibt die Schatten der Menschen in Hiroshima, die den Mittag des 6. August 1945 nicht mehr erlebten. 70.000 Japaner starben sofort bei der Explosion der ersten je abgeworfenen Atombombe, von manchen blieb nur die Silhouette, die der gleißende Blitz in den Boden brannte. Die Opferzahl wuchs durch die Bombe auf Nagasaki, aber auch durch Spätfolgen in den Jahren danach auf Hunderttausende.

Es gibt aber auch die Menschen, die die Atombombe überlebten und die seither den Blick auf das Leid der Opfer lenken. In Japan waren das fast ausschließlich Zivilisten. Aber eben nicht nur dort. Dass die japanische Organisation für ihren Einsatz gegen Atomwaffen gerade jetzt mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird, ist deshalb eine kluge Entscheidung – aber auch eine herausfordernde.

Das Komitee wollte nicht nur würdigen, dass seit 80 Jahren keine weitere Atombombe fiel – sondern auch kritisieren, dass die Atommächte ihre Arsenale ausbauen, dass weitere Länder danach streben, dass in aktuellen Kriegen damit gedroht wird.

Verantwortungsgefühl unterscheidet Demokraten von Tyrannen

Das ist der Schatten, der seit 1945 auf der Menschheit liegt: die Macht derer, die mit der Bombe drohen können. Sie erlaubt Russland den Versuch, das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Sie ist so verlockend, dass andere Autokraten danach streben. Diese Versuche des Iran sind eine zentrale Ursache des Nahostkriegs. Zugleich sind bis heute auch jene auf nukleare Abschreckung angewiesen, die geloben, die Waffen nie einzusetzen. Die direkte Botschaft aus Oslo ist es, an ihr Versprechen zu gemahnen.

Doch es gibt auch eine indirekte Botschaft: an jene, die sich auf der richtigen Seite wähnen, im Einsatz für Freiheit und Demokratie – und doch mit der Macht zur Vernichtung. Es waren die demokratischen USA, die die Bombe aus Furcht vor Nazideutschland entwickelten und sie einsetzten, um den von Faschisten entfesselten Weltkrieg zu beenden. Erst Jahre später mussten sie sich der Frage stellen, ob der Preis angemessen war.

Doch das Dilemma endet nicht beim roten Knopf am Schreibtisch von Putin, Biden und Netanjahu. Wenn Hiroshima und Nagasaki Symbole einer überzogenen Eskalation sind, wirft der Preis insgesamt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Abschreckung und Verteidigung auf. Die Verkündung fiel zufällig auf den Tag, an dem der ukrainische Präsident Selenskyj in Berlin den Kanzler traf, der ihm mehr Waffen versprach. Zu Recht können sie die Mahnung an Putin weiterreichen. Aber wo beginnt die Unverhältnismäßigkeit im Umgang mit zivilem Leben? Durch Israels Bomben sterben Tausende Zivilisten. Wann stellt sich Israel diesem moralischen Problem?

Es gibt keine leichte Antwort auf diese Fragen. Aber es ist wichtig, sie zu stellen, denn dieses Verantwortungsgefühl unterscheidet Demokraten von Tyrannen. Auch das ist eine der Mahnung des Friedensnobelpreises von 2024.