Wie umgehen mit Trauer, Verlust, Tod, Schuld und Vergebung? Was, wenn deine Dämonen längst nicht mehr nur dein eigenes Leben beeinflussen, sondern längst andere (Lebens-)Welten in dunkle Farben kleiden? Keine Frage: Die Themen, die das neue Rollenspiel „Clair Obscur: Expedition 33“ aufmacht, sind keine leichten. Es wird philosophisch, vieles ist Deutungssache, aber eben auch wahnsinnig interessant, weil keiner von uns dem Umgang damit aus dem Weg gehen kann.
Dass das Ganze nicht in Tristesse, Klischees und Melodrama endet, geht zum großen Teil aufs Konto der fantastischen und fantastisch erzählten Geschichte. Wir bleiben ständig interessiert an der vor Geheimnissen strotzenden Welt. Aber auch die beste Story funktioniert nur, wenn das RollenSPIEL dazu auch Spaß macht. Und was Sandfall hier abliefert, ist nichts weniger als die sinnvollste Erweiterung eines altgedienten Systems, die wir je im JRPG-Genre gesehen haben.
Worum geht’s in „Clair Obscur“?

Eine mysteriöse Katastrophe hat die an die französische Belle Époque angelehnte Welt auseinandergerissen. Die an Paris erinnernde Stadt Lumière (Paris = Stadt der Lichter) wurde bizarr verformt, vom Kontinent abgetrennt und schwimmt mittlerweile als Insel im Meer.
Bestimmt wird das Leben in diesem Zerrbild der Realität von der geheimnisvollen „Paintress“ (Malerin). Jedes Jahr schreibt sie eine immer kleiner werdende Zahl auf den Monolithen hinter sich. Wer das entsprechende Alter überschritten hat, stirbt auf der Stelle. Die Bewohner, die sich am jeweiligen Tag am Hafen von Lumière zum Abschied nehmen zusammenfinden, nennen das „die Gommage“ („das Ausradieren“).
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, wird pro Jahr eine Expedition von im nächsten Jahr todgeweihten Kämpfern zur Malerin losgeschickt – bisher ohne Erfolg. Wir begleiten im Spiel die namensgebende „Expedition 33“ mit dem frisch trauernden Gustave, dessen lebensfroher Adoptivschwester Maelle, der sachlichen Zauberin Lune und der Tarot-Künstlerin Sciel. Und dieses Team erweist sich als eines der am besten gezeichneten Ensembles der Videospielgeschichte.
Gleich zu Beginn der Reise werden wir mit so vielen Fragen konfrontiert, dass wir begeistert jedes Detail der Welt und ihrer Geschichten aufsaugen, um das Rätsel um die Malerin zu lüften – und zu verstehen, was genau unsere Welt vor 67 Jahren am Abgrund noch einen Schritt weiter hat gehen lassen.
Was hat uns gut gefallen?

„Clair Obscur“ ist ein Spiel, auf das man sich einlassen muss. Es kombiniert die Erkundung der visuell spektakulären Welt mit rundenbasierten Kämpfen à la „Final Fantasy“ und einer tollen Geschichte um Verlust, Schmerz und den Umgang mit beidem. Was in den Zwischensequenzen an toll geschriebenen und hervorragend gespielten Dialogen passiert, kann sich mit „The Last of Us“ messen.
Der grundlegende Gameplay-Loop sieht so aus: Auf einer Oberwelt bewegen wir uns zwischen den scheinbar in Farbeimer gefallenen Weltabschnitten, sammeln Gegenstände, quatschen mit Händlern. Wo ein schimmernder Wirbel weht, können wir eines der vielen linearen Level betreten, die sich dann ähnlich wie in „God of War“ von A bis Z durchspielen lassen.
Auf der Oberwelt selbst können wir auch Kämpfe gegen die angriffslustigen Bewohner des Kontinents initiieren. Viele von denen können sich in puncto „Abgedrehtheit des Designs“ locker mit den Monstern aus „Elden Ring“ oder „The Witcher 3“ messen. Von turmhohen Erdwesen mit dementorartigem Schlund über plüschige rosa Wolken mit Steindiadem auf dem Fell bis hin zu hageren Kuttengestalten mit Riesensense bekommen wir hier einiges geboten.
Die Kämpfe werden allen, die schon mal ein JRPG gespielt haben, gleich vertraut sein. „Clair Obscur“ baut aber mehrere schlaue Erweiterungen ein, die zwar nicht alle neu sind, in Summe aber ein unheimlich launiges Bildschirmgerangel ergeben. So bleiben wir in den Kämpfen immer aktiv dabei.
Eigene und gegnerische Angriffe per Quick-Time-Event (QTE) können wir perfektionieren oder parieren, sofern das Timing stimmt. Das erzeugt dann ähnliche Glücksgefühle wie in „Elden Ring“ oder der „Persona“-Reihe. Nach einer abgewehrten 7-er-Combo eines scheinbar übermächtigen Feindes haben wir unserem Bildschirm jedenfalls nicht selten ein hörbares „Ja!“ entgegengeschmettert.

Das Charaktersystem ermöglicht zweierlei: Aktive Fähigkeiten erschöpfen sich in neuen und mächtigeren Angriffen und Buffs für unsere Kollegen. Mit „Pictos“ (quasi Perks), die wir in der Welt finden, können wir sechs zusätzliche Verbesserungen pro Charakter freischalten. Haben wir damit vier Kämpfe erfolgreich bestritten, können auch andere Charaktere die Effekte der Perks nutzen – als „Luminas“. Das ist im Menü zwar etwas schwer zugänglich und wird nur kurz erklärt, ermöglicht im Spielverlauf aber ein ziemlich granulares Verbessern unseres Teams ganz nach unserem Gusto.
Toll auch: Je nach Schwierigkeitsgrad können wir „Expedition 33“ als klassisches Action-JRPG spielen oder als Hardcore-Erlebnis wie „Dark Souls“. Wer mag, meistert per Einstellung im Menü jedes QTE perfekt, muss aber trotzdem beim Parieren die Angriffsmuster der Gegner draufhaben.
Und wir könnten jetzt noch lange über all die wunderschönen Ecken dieser schmerzhaft schönen Spielwelt verlieren. Aber schauen Sie sich einfach die Screenshots an und dann sagen Sie uns, dass das nichts mit Ihnen macht. Was Sandfall hier mit knapp 30 Mitarbeitern entworfen hat, ist vielerorts schlicht atemberaubend.
Was hat uns nicht gefallen?

In der Welt von „Clair Obscur“ waren wir anfangs ehrlicherweise so geflasht von der Emotionalität der Story, der bildschönen Welt und ihren anfangs nur angedeuteten Geheimnissen, dass wir viele der Tutorial-Hinweise einfach weggeklickt haben. Das geht auf unsere Kappe. Aber das Spiel erklärt seine Funktionen auch nicht immer gut. Oft merken wir erst im Nachhinein, was alles möglich ist, wenn wir uns etwas einarbeiten. Denn das ist so nötig wie ein sauberer Pinselstrich, wenn man mit dem Spiel Spaß haben möchte.
In unserer Testversion fiel außerdem die Framerate in den Zwischensequenzen ständig ab, was zu ruckeliger Darstellung führte. Das scheint ein erster Patch nach Release glücklicherweise verbessert zu haben. So opulent das Spiel die aufwendigen Zwischensequenzen inszeniert, in „normalen“ Gesprächen ist davon (und von lippensynchronem Sprechen) nicht viel zu sehen. Das dürfte aber tatsächlich dem Zeitbudget des kleinen Entwicklungsstudios geschuldet sein.
Unser Fazit zu „Clair Obscur: Expedition 33“
„Clair Obscur: Expedition 33“ ist nichts weniger als ein Wunder. So groß(artig)e Spiele von so kleinen Entwicklern gibt es heutzutage eigentlich nicht mehr. Was das kleine Team französischer Entwickler abliefert, ist einerseits eine der besten Geschichten des Rollenspiel-Genres aller Zeiten. Gepaart mit einem immer launigen Kampfsystem, einer vor Kreativität und liebevollem Design platzenden Welt und einem Soundtrack, der behutsam, aber genau richtig an den Herzfasern zupft, bekommen Spieler hier für einen AA-Preis ein AAA-Spiel.
Das größte Verdienst des Spiels aber ist seine Fähigkeit, uns zu überraschen. Das gilt für die immer neuen Monsterdesigns, aber vor allem für die Story. Es gab einen Zeitpunkt nach knapp 30 Stunden Spielzeit, an dem wir uns sicher waren, am Ende des Spiels angekommen zu sein. Das Ziel schien schon in Reichweite – und plötzlich ändert sich unsere Sicht auf diese Welt grundlegend. Wir verraten hier natürlich nichts, der Twist gehört in die Geschichtsbücher des Videospiel-Storytellings.
Deshalb sei allen Fans von Rollenspielen an dieser Stelle nur gesagt: Wir konnten „Clair Obscur: Expedition 33“ regelmäßig nur sehr schwer aus unseren Gedanken verbannen. Und empfehlen es Ihnen deshalb aufs Allerwärmste!
„Clair Obscur: Expedition 33“ ist verfügbar auf Playstation, Xbox Series (im GamePass verfügbar) und PC, kostet rund 50 Euro und ist freigegeben ab 16 Jahren.
Triggerwarnung: Das Spiel behandelt die Themen Tod und (seltener) auch Selbstmord. Personen, die diese Themen beunruhigen, empfehlen wir, das Spiel nicht zu spielen.