„Wir sind Rampensäue“: Bethel-Band „Oder so“ veröffentlicht neues Album

Bielefeld. 2017 machte eine kleine, inklusive Bethel-Band aus Bielefeld plötzlich Furore. Gemeinsam mit einer der erfolgreichsten Produzentinnen Deutschlands, Annette Humpe, nahm die Gruppe &bdquo;Oder so“ zwei Songs für das 150-jährige Bethel-Jubiläum auf. Starfotograf Jim Rakete drehte das dazugehörige Video für das Lied &bdquo;Taschen voll Gold“. Sieben Jahre später sind die Musiker nach wie vor gemeinsam am Start – und haben ein neues Album aufgenommen, das an diesem Wochenende veröffentlicht wird. &bdquo;Jetzt oder nie“ heißt die Platte, auf der die Band nach eigenen Angaben ihre ganze &bdquo;Bandbreite“ zeigt. Zehn selbst geschriebene Deutsch-Pop-Songs sind darauf vereint, stilistisch bewegt sich das ganze zwischen fettem Disco-Beat bis hin zur hymnischen Ballade. Seit 2021 haben Lisa Scholz (Gesang), Gerlinde Fortmann (Gesang), Nils Frevert (Gesang), Patrick Clausmeier (Schlagzeug) und Alicia Lütze (Gesang) mit ihren Bandcoachs und Mitmusikern Oliver Damaschek-Hahn (Bass/Gesang), Mario Waniek (E-Gitarre) und Lukas Dylong (Akustische Gitarre/ Gesang) an dem Album gearbeitet – und sind extrem zufrieden mit dem Ergebnis. &bdquo;Da stecken einfach ganz viel Herzblut und viele Nerven drin“, sagt Coach Oliver. &bdquo;Das war auch nicht immer einfach. Aber wenn du das Ding dann in der Hand hälst, vergisst du den Weg.“ Band schreibt alle Texte gemeinsam – immer Was die Arbeit gleichermaßen erfüllend aber auch anstrengend macht, ist sicherlich der Fakt, dass die gesamte Band alle Texte immer gemeinsam schreibt. &bdquo;Und das heißt auch: Alle müssen sich wiederfinden können“, sagt Sängerin Lisa. Wenn das nicht der Fall ist, geht’s ans Diskutieren. Ein Beispiel nennt sie auch gleich: In einem Song drehte sich eine Strophe um das Erinnern. &bdquo;Damit konnte ich mich überhaupt nicht identifizieren, und dann kann ich das auf der Bühne auch nicht singen“, sagt Lisa. Denn mit 13 Jahren fiel sie ins Koma, aus dem sie mit einer vollständigen Amnesie erwachte. Lisa konnte nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen, erkannte ihre Eltern nicht mehr. Sie kämpfte sich zurück ins Leben, und im Gespräch merkt man ihr das Erlebte nicht an. Voller Energie und mit einem breiten, strahlenden Lächeln erzählt sie von ihrer Liebe zur Musik, von Ideen für Songs, für die sie jederzeit eine dicke Kladde dabei hat, um alles aufzuschreiben. Keine Erinnerung an ihr Leben vor dem Koma An ihr Leben vor dem Koma aber hat sie nach wie vor keine Erinnerung, immer wieder spielt das Kurzzeitgedächtnis ihr Streiche. Lisas Waffe gegen diese Ausfälle ist ihr Humor. Im Gespräch fällt Coach Oliver ein Datum nicht ein. &bdquo;Warte kurz, das fällt mir noch ein“, sagt er. Lisas trockener Konterspruch: &bdquo;Tja, da bin ich raus.“ Leicht kommt das rüber, witzig, nicht bitter-sarkastisch. Und auch die Vorfreude, beim Konzert endlich mal wieder ihren &bdquo;Rolli-Dance“ zu performen, ist deutlich spürbar. Dahinter steht ein zweiter schwerer Schlag in Lisas Leben. Vor einigen Jahren platzt ein Kavernom, eine Gefäßfehlbildung, in ihrem Rückenmark. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl. &bdquo;Aber die Amnesie war eine viel schlimmere Erfahrung.“ Es ist maßgeblich die Musik, die ihr zu dieser bewundernswert optimistischen Haltung verhilft. Denn wenn sie ins Spiel kommt, ist das wie Seelenarbeit für Lisa. Und vor allem merkt sie sich mühelos Songtexte, die sie nur einmal, zweimal gelesen hat. &bdquo;Ich kann alle Songs auswendig, die ich auf dem Handy habe, egal, ob auf Deutsch oder Englisch.“ Jeder Musiker bringt sein Paket mit So wie Lisa bringt jeder Musiker der Band sein Paket aus Behinderungen, Einschränkungen oder Erkrankungen mit. Fetales Alkoholsyndrom. Konzentrationsprobleme, Vergesslichkeit und Stimmungsschwankungen sind Herausforderungen, die das Miteinander bestimmen. &bdquo;Das wissen wir, darauf stellen wir uns ein und darüber sprechen wir dann“, sagt Coach Oliver Damaschek-Hahn. Darin hat er reichlich Erfahrung, denn seit elf Jahren leitet der Heilerziehungspfleger mit Mario Waniek und Lukas Dylong die Band Camp-Workshops, ein mobiles, inklusives Projekt, das Menschen ermöglichen soll, sich musikalisch auszudrücken. Außerdem hat jedes Bandmitglied seine feste Rolle im Bandgefüge, wie bei jeder anderen Band auch. Lisa und Alicia sind die Songschreiberinnen und Ideenschmiedinnen, Gerlinde organisiert und kümmert sich um die Details. Nils ist der Clown, der für gute Stimmung in der Band und auf der Bühne sorgt. Und Patrick &bdquo;bringt für mich die Essenz der Band auf den Punkt“, sagt Damaschek-Hahn. &bdquo;Denn mit seinen ausgefallenen Kostümen und Stylings, egal ob als Mann oder als Frau, lebt er das Konzept ,Oder so’ am intensivsten. Oder so ist anders. Und anders ist normal.“ Konzerte in regulären Clubs sind wichtig Deshalb freuen er und die Band sich ganz besonders über den Ort für ihr Releasekonzert ihres Albums. Es wird das &bdquo;Forum“ in Bielefeld sein, ein regulärer und beliebter Club für Rock- und Indiekonzerte. &bdquo;Es ist wichtig, dass wir an solchen Orten spielen, um uns von Bethel als Ort für Menschen mit Behinderungen zu lösen. Wir sind einfach eine Band, die ein Konzert für alle spielt.“ &bdquo;Außerdem sind wir alle Rampensäue“, fällt Lisa Scholz ihm ins Wort. Damaschek-Hahn grinst beifällig. &bdquo;Das stimmt. Und es zeigt sich immer wieder: Am Ende ist Musik ein sensationelles Medium, bei dem es egal ist, was jeder mit sich rumschleppt. Jeder von uns ist ein Künstler, egal, wer was hat.“

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