Der Meister des direkten Freiwurfs

Legenden des Altkreissports: Istvan Varga

Hohe Handballkunst: Wenn Istvan Varga, hier im Trikot der ungarischen Nationalmannschaft, zum Freiwurf antrat, hatten auch Weltklassespieler wie die Rumänen Vasile Stinga und Stefan Birtalan das Nachsehen. | © Foto: HK-Archiv

25.03.2016 | 25.03.2016, 06:00

Gerne hätte ich mit Istvan Varga gesprochen, mit dem ehemaligen Weltauswahlspieler, dessen Erscheinen auch ich im Mai 1988 in der Sporthalle Masch entgegenfieberte. Doch der sympathische Schnauzbart ist am 6. Dezember 2014 in seiner Heimatstadt Debrecen im Alter von 71 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. So sind es eigene Erinnerungen und Gespräche mit seinem Sohn Istvan, der den gleichen Vornamen wie sein Vater trägt, die einen außergewöhnlichen Sportler und Menschen würdigen sollen.

Siebenmeter – Varga nimmt sich den Ball, holt gewaltig aus, zieht ab, der Torwart reagiert und liegt am Boden, der Ball aber ist immer noch in der Hand des Ungarn, der ihn anschließend locker und lässig über den Keeper ins Tor wirft. Zweiter Siebenmeter – das Spiel wiederholt sich. Dritter Siebenmeter – Torwartwechsel. Der konzentrierte Blick des zweiten Keepers verrät den unbedingten Willen, es besser zu machen und sich nicht von Varga auf den Boden schicken zu lassen. Der Ungar holt aus, zieht ab, der Torwart bleibt ruhig stehen und kann nicht verhindern, dass der Ball, mit unglaublicher Lässigkeit geworfen, langsam rechts von ihm über die Linie trudelt. Wegen solcher Aktionen reisten Handballer aus dem Altkreis in den 80er Jahren zu den Heimspielen des TuS Spenge, für den Varga zwei Jahre lang spielte – und natürlich wegen direkt verwandelter Freiwürfe.

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Istvan Varga

Mannschaften stellten Torhüter in den Abwehrblock

Es gab Mannschaften, die stellten Torhüter in den Abwehrblock, wenn Varga an die Freiwurflinie trat. Es gab Teams, die wechselten eilig ihre größten Spieler ein, wenn ungarisches Ungemach in zentraler Position drohte – allein, es nutzte nichts. Varga knickte nach links ab und fand mit ungeheurer Präzision die Lücke im Abwehrblock.

Freiwurf direkt: Auch im Trikot des TV Künsebeck zeigte Istvan Varga seine Kunst. - © Foto: HK-Archiv
Freiwurf direkt: Auch im Trikot des TV Künsebeck zeigte Istvan Varga seine Kunst. (© Foto: HK-Archiv)

Ich treffe seinen Sohn, der ebenfalls in Künsebeck Handball gespielt hat. Der 48-Jährige hat zahlreiche großformatige Schwarz-Weiß-Fotos auf den Tisch gelegt. Obenauf ein Bild aus dem Jahr 1978. Es zeigt Istvan Varga im Trikot der ungarischen Nationalmannschaft, wie er waagerecht in der Luft liegend den Ball am rumänischen Abwehrblock vorbei zum Siegtreffer ins Tor wirft. Auch Weltklassespieler wie Vasile Stinga und Stefan Birtalan haben dabei das Nachsehen. Die Aufnahme wurde 1978 in Ungarn zum Sportfoto des Jahres gewählt.

Stadion Debrecen: Bis zu 10000 Zuschauer verfolgten unter freiem Himmel die Auftritte von Istvan Varga. - © Foto: HK-Archiv
Stadion Debrecen: Bis zu 10000 Zuschauer verfolgten unter freiem Himmel die Auftritte von Istvan Varga. (© Foto: HK-Archiv)

Wie sein Vater auf die Idee kam, Freiwürfe direkt zu werfen? Istvan Varga junior überlegt ganz kurz. „Das hat er schon als 19-Jähriger gemacht. Mein Vater war früh der Meinung, dass im Handball beim Freiwurf nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden", sagt er und fügt hinzu: „Damals allerdings hat es ihm sein Trainer verboten."

Istvan Varga junior: Derselbe Name, dieselbe Leidenschaft: Handball. - © Foto: Heiko Kaiser
Istvan Varga junior: Derselbe Name, dieselbe Leidenschaft: Handball. (© Foto: Heiko Kaiser)

Er hat immer alles für seinen Handball gegeben

Damals, das war Anfang der 1960er-Jahre. In Ungarn, jenseits des eisernen Vorhangs, regierte Ministerpräsident János Kádár. Die besten Handballspieler des Landes wurden bei Honved Budapest zusammengezogen. Auch Istvan Varga ging zum Militärverein Honved. „Vater hatte es nicht leicht. Sein Vater war früh gestorben. Mit 13 musste er arbeiten gehen", erzählt Istvan Varga junior. Das hat Varga geprägt und ihn womöglich zu dem Sportler gemacht, der er war: „Er hat alles für seinen Handball gegeben. Sich immer zu 100 Prozent eingesetzt", sagt sein Sohn. Es ist bezeichnend, dass Varga sich nicht zu schade war, als Trainer der Künsebecker Handballer für die TV-Zweite in der Kreisliga aufzulaufen. Er, einer der ehemals besten Handballer der Welt, der 127 Mal für die ungarische Nationalmannschaft spielte, an drei Weltmeisterschaften und zwei Olympischen Spielen (1972 und 1976) teilnahm und in die Weltauswahl berufen wurde.

Für seinen Sohn war von vornherein klar: Den Vater würde er sportlich nicht erreichen können. „Am Anfang hat es mich gestört, immer mit ihm verglichen zu werden", sagt Varga junior nachdenklich und senkt den Kopf. Dann wird seine Stimme laut, so, als wolle er damit diese Gedanken fortwischen, und er sagt nachdrücklich: „Alles in allem aber habe ich davon profitiert."

Und er erinnert sich dabei an große Spiele, an die Meisterschaft mit Debrecen vor 10000 Zuschauern in einem Handballstadion oder auch an das Abschiedsspiel vor 6000 Zuschauern an gleicher Stelle: Damals war Istvan Varga bereits mehr als 50 Jahre alt. Später wurde er Trainer in der Ersten ungarischen Liga, dann Funktionär für den ungarischen Handballverband. Als Delegierter der EHF (European Handball Federation) bereiste Varga von 1994 bis 2012 europäische Sporthallen, unterstützte die Schiedsrichter und diente als Spielbeobachter.

Dujshebaev: „Istvan Varga war mein Vorbild"

Sein Sohn erinnert sich an eine Begegnung aus dieser Zeit: „Talant Dujshebaev leitete gerade als Trainer des spanischen Teams Ciudad Real vor einem Europacup-Spiel das Abschlusstraining, als Vater die Halle betrat. Dujshebaev unterbrach die Einheit, ließ seine Spieler antreten und fragte, ob sie diesen Mann kennen. Die meisten schüttelten nur ratlos den Kopf, und der einst beste Handballer der Welt klärte sie auf: „Das ist Istvan Varga. Mein Vorbild."

Doch seine Freiwurfkunst traf nicht nur auf Bewunderung. Als Varga beispielsweise in seinem ersten Heimspiel für den TV Künsebeck gegen die Spvg. Steinhagen zehn Tore erzielte, vier Siebenmeter und sechs direkte Freiwürfe, ereiferte sich Steinhagens Trainer Burkhard Pommerening nach dem Spiel: „Das macht den Handball kaputt."

Immer wieder hat Istvan Varga versucht, den Mannschaften, die er trainierte und vor allem auch seinem Sohn, die Technik des direkten Freiwurfs beizubringen: „Mach den Knick nach links. Du musst nicht an der Mauer vorbeiwerfen. Die ersten beiden kommen mit dir runter, und dann musst du beim dritten nur durch die Arme schießen", erinnert sich Varga junior an den Tipp seines Vaters. Kurz überlegt er, dann fährt er kopfschüttelnd fort: „Er hat die weggeschossen, aber ich konnte das ja nicht, ich hätte mich da doch nur verletzt."

Sein Vater habe das mit Humor genommen, ergänzt er. Talent in der Familie überspringe eben meistens eine Generation, habe Varga immer gesagt. Dessen zwei Enkel haben inzwischen jedoch ihre kurzen Handballkarrieren wieder beendet. Vermutlich braucht es eben doch mehr als zwei Generationen, um einen Handballer hervorzubringen, der wie Istvan Varga dazu berufen ist, seine Disziplin zu revolutionieren.

Info

Die Serie

Mit ihren Leistungen und ihrer Persönlichkeit haben sie Geschichte geschrieben: In der Serie stellt das HK Legenden des Altkreissports vor. Vor Istvan Varga sind Porträts über die Fußballer Erich Staude, Uwe Erich und Egon Köhnen, die Handballer Hartmut Kania und Dirk Kelle, Leichtathlet
Steffen Dittmann, Tischtennis-Ass Nicole Struse und den »ewigen Berichterstatter« Wilfried Braune erschienen.