Sechs deutsche Meisterschaften in Folge gewannen die Damen der Sportvereinigung von 1989 bis 1994. Zweimal – 1992 und 1993 – sogar den Europapokal der Landesmeister. Rund ein Dutzend Spielerinnen war an diesen Triumphen beteiligt, doch nur eine gehörte sämtlichen Steinhagener Meistermannschaften an: Nicole Struse.
„Das war schon eine geile Zeit“, sagt die heute 44-Jährige, während sie in einer Kneipe im Schatten des Kölner Doms in Erinnerungen und Schwarz-Weiß-Fotos aus dem HK-Archiv kramt. Seit sechs Jahren lebt sie in der Metropole am Rhein, genießt das quirlige Treiben rund um ihre Wohnung im Eigelstein-Viertel, die kurzen Wege, den Karneval („Das ist mein Ding“) – und ein Stück weit auch die Anonymität der Großstadt. Rund zwei Jahre ist es her, dass die bis heute populärste Tischtennisspielerin Deutschlands den Schläger aus der Hand gelegt hat. „Seitdem bin ich als Privatperson unterwegs. Und das bin ich gerne“, sagt Nicole Struse.
Ihr Glück rührt nicht zuletzt daher, dass sich durch die Geburt ihres ersten Kindes vor 16 Monaten ein großer Wunsch erfüllt hat. „Ich bin total happy, dass es geklappt hat. Schließlich bin ich ja schon ein bisschen älter“, sagt sie und mutmaßt: „Wahrscheinlich hat mich der Sport biologisch jung gehalten“. Dass sie seit einigen Jahren mit einer Frau (Katharina, 38) verheiratet ist, habe die Sache zusätzlich „kompliziert“ gemacht, räumt Nicole Struse ein. Und sie kennt natürlich die Fragen, die diese Konstellation aufwirft. Antworten aber bleiben an dieser Stelle Privatsache.
Manager Lamm war wie ein Vater-Ersatz
Als Nicole Struse 1987 im Schnapsdorf ihren ersten Profivertrag unterzeichnet, ist sie praktisch selbst noch ein Kind. Drei Jahre nach den Herren sind auch die Damen der Spvg. Steinhagen in die Bundesliga aufgestiegen und auf der Suche nach Verstärkung, um im Oberhaus bestehen zu können. Manager Rüdiger Lamm beweist ein glückliches Händchen, als er die damals 15-Jährige für ein monatliches Salär von 500 Mark aus Kleve an den Cronsbach lockt. Nur eine Woche später schreibt sein neuer Schützling Geschichte: Als bis dahin jüngste Spielerin wird Nicole Struse in Berlin deutsche Meisterin im Einzel.
Sportlich hält sie auf Anhieb in der höchsten deutschen Spielklasse mit. Auf menschlicher Ebene dagegen stellt der Umzug nach Ostwestfalen für das pubertierende Mädchen aus dem Rheinland ein großes Abenteuer dar. „Ich war damals sehr unselbstständig und wusste noch nicht, wo es langgeht. Man musste schon gut auf mich aufpassen“, gibt Nicole Struse zu.

Doch zum Glück findet sie Personen, die dieser Aufgabe gewachsen sind: Zuerst nimmt sie der damalige Spvg.-Vorsitzende Heinz Hülsmann unter seine Fittiche. Kurze Zeit später zieht Struse bei Lamm und dessen Familie ein. „Rüdiger ist in dieser Zeit so etwas wie ein Vater-Ersatz für mich gewesen“, sagt sie. „Er hat sich einfach um alles gekümmert. Und bei seinen Eltern gab es immer Vanille-Pudding mit Kirschen.“
Neben der süßen lernt sie aber auch die saure Seite des Steinhagener Machers kennen. „Wenn wir im Training mal die falschen Socken getragen haben, gab es mächtig Ärger“, erinnert sie sich. Mehr als einmal rasseln der knallharte Manager und sein temperamentvoller Schützling aneinander. Als Struse beim Europapokal-Halbfinale 1991 in Budapest Trainer Istvan Batorfi beschimpft und mit ihrem lustlosen Auftritt das Spiel quasi im Alleingang verliert, sperrt Lamm sie vereinsintern für mehrere Monate.
Mit der Feuerwehr durch das Dorf
Damals ein Skandal, kann Nicole Struse heute über den Vorfall lachen. Und sie resümiert: „Ich habe in Steinhagen gelernt, was Disziplin heißt. Heute bin ich ein überpünktlicher Mensch.“ Über Lamm hat sie gehört, dass dieser seit einigen Jahren mit seiner Familie in Hamburg lebt. Kontakt haben die beiden nicht mehr. „Schade eigentlich...“, sagt Nicole Struse und nippt nachdenklich an ihrer Fassbrause.
Von launischen Ausschlägen nach unten abgesehen, sind ihre Leistungen an der grünen Platte jedoch über jeden Zweifel erhaben. Struse profitiert von den optimalen Bedingungen in Steinhagen, die „bis heute Maßstäbe gesetzt haben“. Die Spielerinnen werden professionell betreut, können sich in einer beispiellos starken Trainingsgruppe auf ihren Sport konzentrieren und geben national und in Europa über Jahre den Ton an.

Unvergessen sind für Nicole Struse vor allem die heißen Duelle mit der TSG Dülmen. „Die Dülmener Fans haben uns beschimpft und beim Zugucken in der Box wurde man wahnsinnig. Und immer wieder ging es 7:7 aus.“ Am Saisonende halten aber regelmäßig die Steinhagenerinnen den Pokal des deutschen Meisters in der Hand. „Und dann sind wir mit dem Feuerwehrauto durch das Dorf gefahren“, denkt Struse schmunzelnd zurück.
Umso tiefer und unerwarteter ist der Fall im Jahr 1994. Nach Differenzen mit Lamm, der seinen Fokus mittlerweile auf den einträchtigen Job beim damaligen Fußball-Regionalligisten Arminia Bielefeld gerichtet hat, meldet der Vorstand der Spvg. Steinhagen seine Profiteams kurz vor Toreschluss aus der Bundesliga ab. Über Nacht stehen Struse und ihre Kolleginnen ohne Job da und sind quasi im Sommerschlussverkauf zu haben. Als Schnäppchenjäger betätigt sich ausgerechnet Erzrivale Dülmen, der ihr die Hälfte ihres bisherigen Gehaltes zusagt – und davon am Ende nur die Hälfte zahlt.
„Ich habe es in meiner Karriere ein paar Mal erlebt, dass in einem Verein von heute auf Morgen Schluss war“, sagt Nicole Struse. Beklagen möchte sie sich trotzdem nicht. „Ich glaube, ich habe finanziell die beste Zeit im deutschen Damentischtennis abgegriffen. Vor allem in Steinhagen haben wir wirklich gut verdient.“
An ihrer sportlicher Entwicklung geht der wirtschaftliche Rückschlag damals unbeschadet vorbei. Zwei Jahre nach dem Aus in Steinhagen ist die kompromisslose Angriffsspielerin auf dem Zenit ihres Erfolges. In Bratislava wird Struse 1996 Europameisterin im Einzel, Doppel und mit der deutschen Mannschaft. Im selben Jahr liefert sie mit dem Viertelfinaleinzug in Atlanta das beste Resultat ihrer insgesamt vier Olympia-Teilnahmen ab und wird – als einzige Europäerin – in den Top Ten der Weltrangliste notiert.
Letzter Aufschlag mit 41 Jahren
Ob sie im Rückblick stolz auf ihre Karriere und die Erfolge ist? „Klar“, sagt Nicole Struse und nickt bestätigend mit dem Kopf. „Vor allem auf die Konstanz, mit der ich auf diesem hohen Niveau gespielt habe.“ 2004, acht Jahre nach dem EM-Triple, gewinnt die Rekordnationalspielerin das Europe-Top-12 Turnier und schlägt die Weltranglisten-Erste und kommende Olympiasiegerin Zhang Yining aus China. Über die Stationen Coesfeld und Montpellier in Frankreich findet sie im FSV Kroppach einen Verein, mit dem sie von 2000 bis 2009 das Mannschaftstischtennis ähnlich dominiert wie Jahre zuvor mit der Spvg. Steinhagen. Bis 2013 hält sich Struse oben, ehe sie mit 41 Jahren im Trikot des SV Böblingen ihr letztes Bundesligaspiel absolviert.Schwer gefallen ist ihr der Abschied nicht. „Ich konnte nichts Neues mehr lernen. Und das Verlieren war ich ja auch nicht so gewohnt“, sagt sie. So überwog die Freude auf einen neuen Lebensabschnitt, das Gefühl, „dass da noch mehr kommt in meinem Leben“. Sohn Max hat darin nun die Hauptrolle übernommen. Auch berufliche Pläne hat sie – aber noch „zu frisch, um darüber zu reden“. Eine abgeschlossene Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau, die Trainer-A-Lizenz und nicht zuletzt ihr guter Name könnten ihr Türen öffnen.
Die Frage, was sie ihrem Sohn raten würde, wenn er eines Tages beschließen würde, sein Geld mit Tischtennis zu verdienen, nimmt Nicole Struse nicht wirklich ernst. „Der wird nicht Profi. Der wird Opernsänger“, scherzt sie. Und schiebt ein wenig ernsthafter nach: „Und wenn nicht, dann wenigstens ein guter Mensch.“ Der seine Mama dann bestimmt auch wieder ausschlafen lässt.