Keine Rettung für cracksüchtige „Sarah“: „Soll mich innerlich von meiner Tochter verabschieden“

Bielefeld. 17 Jahre alt ist Sarah im Sommer geworden. Große Angst hatte ihre Mutter Birgit Feldmann (alle Namen geändert) vor diesem Geburtstag. Denn mit 17 ist die Jugend im Hilfesystem fast vorüber. &bdquo;Und dann war es das für Sarah, dann hilft uns keiner mehr.“ Hilfe braucht Sarah aber nach wie vor. Mehr denn je. Denn nichts hat sich geändert. Sarah ist crackabhängig, seitdem sie 14 ist. Sie prostituiert sich, seitdem sie 15 ist. Infizierte sich darüber mit HIV. Die Medikamente zur Unterdrückung des Virus nimmt sie nicht. Sie begeht Straftaten, wird gewalttätig. Dennoch ist sie nicht in der Lage, sich zu schützen vor Männern, die sie missbrauchen und misshandeln. Die Hilfe, die Sarah braucht, eine Suchttherapie, erhält sie nicht. Zum einen gibt es viel zu wenig Einrichtungen für Systemherausforderer wie sie. Und die, die es gibt, nehmen nur Patienten, die kooperieren. Doch da ist noch ein anderes Problem: In Deutschland gesteht das Rechtssystem auch schon Kindern zu, sich selbst zu schädigen, wenn sie das wollen. Es ist eine Freiheit, die Sarah absehbar mit dem Leben bezahlen wird. Hoffnungsschimmer in Klinik in Bethel Seit zwei Jahren begleitet diese Autorin die Familie Feldmann. Wöchentliche, in besonders schlimmen Phasen tägliche Telefonate mit Sarahs Mutter, seitenweise Gutachten, Mailwechsel mit Anwälten, Gespräche mit dem Jugendamt dokumentieren die Entwicklung von Sarah, die keine ist. Denn Entwicklung bedeutet Veränderung, vielleicht sogar Fortschritt. Bei Sarah aber verändert sich nichts und Fortschritt gibt es schon gar nicht. Dabei sieht es im vergangenen Jahr noch so aus, als gebe es endlich einen Lichtstreifen. Nach einem Bericht dieser Redaktion wird Sarah per Gerichtsbeschluss geschlossen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Bethel aufgenommen. Erstmals bleibt sie dort länger als die bis dahin üblichen und sehr wirkungslosen sechs Wochen. Am Ende wird es fast ein Jahr, weil das Jugendamt keine einzige Einrichtung für eine Anschlussmaßnahme finden kann. Doch der Aufenthalt bleibt letztlich eine Notlösung. Denn die Klinik ist eine Akut- und keine Suchtklinik. Die wirklich passende Therapie kann Sarah hier nicht erhalten. Zunächst scheint alles gut zu laufen: Sarah bekommt endlich wieder die HIV-Therapie, ihre Lungenentzündung und eine erst in Bethel entdeckte schwere Hepatitis werden behandelt. Sie nimmt zu, wird klar im Kopf. Bei Freigang kehrt Sarah ins Drogenmilieu zurück Doch weil sie sich sehr kooperativ verhält, bekommt sie irgendwann Ausgang. Zunächst nur kurz und in Begleitung, zuletzt, das geht aus einem externen Gutachten eines Facharztes für das Amtsgericht hervor, darf Sarah dreimal am Tag für mehrere Stunden &bdquo;raus“. &bdquo;Und das“, ist sich ihre Mutter heute sicher, die entschieden gegen diese Freiheit protestiert, &bdquo;war eigentlich schon der Anfang vom Ende.“ Es passiert genau das, was Birgit Feldmann vorhergesagt hat und auch schon mehrfach geschehen ist: Sarah nimmt sofort wieder Kontakt zu Bekannten aus dem Drogenmilieu auf, hält sich mehrfach nicht an die Regeln für ihren Ausgang und sucht Plätze in der Stadt auf, die ihr verboten worden sind. In der Klinik verschlechtert sich ihr Verhalten daraufhin zusehends, sie gerät mit anderen Patienten und dem Personal aneinander, bedroht andere, wird körperlich übergriffig. Drogentests bleiben jedoch negativ. Sarahs Mutter protestiert gegen Freigang In einem Gespräch für ein erneutes Gutachten am 25. Oktober 2024 äußert Sarahs Bezugspflegerin daraufhin, dass aus ihrer Sicht ein weiterer Aufenthalt in der Klinik nicht förderlich sei, weil Sarah sich vermutlich in ihrem alten Freundeskreis aufhalte. Sie habe zudem einen neuen Freund, der vermutlich marokkanischer Abstammung sei und &bdquo;sehr unterstütze“, dass Sarah sich plötzlich verschleiere. Sie gibt auch an, dass Sarah nach einer Entlassung aus der Klinik &bdquo;sehr gut bewacht“ werden müsse, am besten an einem Ort weit entfernt von Bielefeld, da sie sonst in alte Muster zurückfiele. Gespräche über eine Rücknahme des offenkundig schädlichen Freigangs sind in dem Gutachten nicht erwähnt – die Proteste von Sarahs Mutter Birgit Feldmann gegen die Lockerungen hingegen schon. Dieser Redaktion gegenüber sagt sie schon damals: &bdquo;Ich glaube, Sarah ist noch längst nicht so weit. Sie wird wieder abrutschen. Und dann geht alles von vorn los.“ Drei Tage nach Klinikrauswurf folgt ein Raubüberfall Eine Befürchtung, die nun seit Monaten bittere Realität ist. Denn am 29. Januar fliegt Sarah wegen ihres Verhaltens aus der Klinik. Drei Tage später, am ersten Februar, ist sie in einen schweren, bewaffneten Raubüberfall verstrickt. Am dritten Februar übernimmt ihre Mutter Sarah von der zuständigen Reittherapeutin, die parallel zum Klinikaufenthalt mit Sarah arbeitet, um sie zu einem Runden Tisch beim Jugendamt zu bringen. Sie traut ihren Augen nicht, denn Sarah ist &bdquo;komplett zugedröhnt, voll auf Droge“, sagt Birgit Feldmann und schüttelt bei der Erinnerung verbittert den Kopf. &bdquo;Ich habe es denen immer gesagt: Sarah braucht eine Therapie, und zwar in einem geschlossenen Setting. Sonst geht das immer so weiter.“ Das Jugendamt heuert nun einen Jugendhilfeträger an, mietet für Sarah eine Wohnung in der Bielefelder Innenstadt. Dort wird sie rund um die Uhr betreut. Einen Monat lang geht das mehr oder weniger gut, doch weil Sarah immer wieder Kontakt ins Milieu aufnimmt, wird sie von ihren Betreuern in eine Wohnung nach Ahaus nahe der holländischen Grenze gebracht. Bereits eine Woche später haut sie von dort ab. Es folgen Monate, in denen Birgit Feldmann wenig von ihrer Tochter hört. Zeitweise hält sich Sarah im Ruhrgebiet auf. Die Betreuer, die sie dort abholen wollen, kehren unverrichteter Dinge zurück und beenden daraufhin die Maßnahme. Irgendwann im Frühjahr kehrt Sarah nach Bielefeld zurück. Am 25. Mai erhält Birgit Feldmann dann einen Anruf aus der Notaufnahme. Sarah ist dort eingeliefert worden, sie ist auf Droge und in einem sehr schlechten Zustand. Feldmann fährt los, versucht, die Klinik dazu zu bewegen, Sarah aufzunehmen. Vergeblich – denn Sarah will nicht. Auf Anfrage teilt das Evangelische Klinikum Bethel mit: &bdquo;Bei der Patientin waren in der Notaufnahme keine weiterführenden Untersuchungen wie eine Blutuntersuchung aufgrund mangelnder Einwilligung möglich. Sarah stimmte einer stationären Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ebenfalls nicht zu.“ Gutachter und Fachärzte sprechen Sarah Fähigkeit zur Einsicht ab Es ist ein über Jahre dauernder Teufelskreis, den mittlerweile alle beteiligten Institutionen gut kennen. Immer aber werden die gleichen Argumente angeführt: So lange Sarah nicht mitarbeitet, so lange Sarah selbst nicht will, ist letztlich nichts auszurichten. Keine Einrichtung nehme eine Patientin auf, die nicht willens sei, zu kooperieren. &bdquo;Wir müssten Minderjährige wie Sarah zu ihrer Rettung zwingen – und das gibt das System nicht her“, sagt Bielefelds Sozialdezernent Ingo Nürnberger. &bdquo;Die Möglichkeiten, auch schon jungen Menschen gegen ihren Willen zu helfen, sind hochgradig eingeschränkt.“ Dabei ist ärztlich von zwei verschiedenen Gutachtern und wiederholt per Gutachten bestätigt: Kooperieren, mitarbeiten, für sich selbst gesunde, vernünftige Entscheidungen zu treffen, zu all dem ist Sarah nicht in der Lage. &bdquo;Sie erkennt bisher die schwerwiegenden Folgen ihrer Erkrankungen nicht und verfügt über keine kognitiven Voraussetzungen, die zukünftig eine Einsicht in die Behandlungs- und Betreuungsnotwendigkeit erwarten lassen“, formulierte ein Osnabrücker Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in einem Gutachten für das Amtsgericht bereits 2024. In einem vorläufigen forensisch psychiatrischen Gutachten von August 2025 bescheinigt ein weiterer Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie im Auftrag des Landgerichts Bielefeld: Sarahs früher Konsum von Suchtmitteln und der langjährige Aufenthalt in der Drogenszene zeigten auf, &bdquo;dass bei ihr Entwicklungsdefizite auf unterschiedlichen Ebenen bestehen. Um diese angemessen aufzuarbeiten, bedarf es aus psychiatrisch-psychologischer Sicht einer längerfristigen therapeutischen Intervention.“ Weiter heißt es hier: &bdquo;Es wird aus psychiatrischer Sicht von einer Gefahr ausgegangen, dass Frau (Name von Redaktion entfernt) weiterhin rechtswidrige Taten, nämlich Gewalt- und Eigentumsdelinquenz und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz begehen wird.“ Anwalt der Familie Feldmann kritisiert fehlende Eingriffsmöglichkeiten Doch obwohl das alles klar ist, reicht ein einfaches &bdquo;Nein“ von Sarah, und schon sind allen Beteiligten die Hände gebunden. Denn in einem Land, das Kindern bis zu ihrem 18. Lebensjahr ohne jegliches Mitspracherecht eine unantastbare Schulpflicht vorschreibt, wird der freie Wille auch schon Minderjähriger plötzlich hoch gehandelt, wenn es um essenziell wichtige Therapien und Behandlungen geht. Fassungslos hat Sarahs sorgeberechtigte Mutter ein ums andere Mal erlebt, dass die Einwilligung ihrer 15 oder 16 Jahre alten, teilweise völlig zugedröhnten Tochter abgefragt wird, wenn es um therapeutische Maßnahmen geht. &bdquo;Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich gehört habe, dass jemand sie fragt: Sarah, möchtest du das? Und wenn ich Ja sage, sie aber Nein sagt, dann wird es nicht veranlasst. Dann kann ich nichts machen.“ Hinzu kommt: Freiheitsentziehende Maßnahmen gegen den Willen einer Person sind nur so lange zulässig, wie eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung besteht. In den Augen von Jens Andernacht, langjähriger Anwalt der Familie Feldmann, ist es grundsätzlich auch richtig, die Persönlichkeitsrechte so hochzuhalten. &bdquo;Im Einzelfall von Sarah liegen diese Eingriffsschwellen aber zu hoch. So muss zugelassen werden, dass sie sich sehr dauerhaft selbst schädigt.“ Die zweite Krux: Sobald die Eigen- oder Fremdgefährdung nicht mehr akut ist, muss die Maßnahme sofort beendet werden. Heißt im Fall Sarah: Mehrfach wird sie per gerichtlichem Beschluss geschlossen untergebracht. Jedes Mal bessern sich ihr Zustand und ihr Verhalten schnell, da sie nicht an Drogen kommen und keinen Kontakt zu ihrem Umfeld haben kann. Und sobald dies geschieht, wird sie entlassen – ohne im Mindesten therapiert zu sein. Und alles geht von vorne los. .responsive23-FxWTeAhgcvkimdXS-ttc-linechart-stationaere { width: 100%; padding-top: 100%; } @media (max-width: 600px) { .responsive23-FxWTeAhgcvkimdXS-ttc-linechart-stationaere { padding-top: 100%; } } @media (max-width: 360px) { .responsive23-FxWTeAhgcvkimdXS-ttc-linechart-stationaere { padding-top: 142.86%; } } Anklage gegen Sarah vor dem Landgericht Bielefeld Und doch ist dieses Mal etwas anders. Denn Sarah ist nach dem Vorfall im Februar wegen schweren Raubes angeklagt. Mit der Justiz kommt nun eine Instanz ins Spiel, die nicht auf Freiheit und Zustimmung setzt. Am 20. August erscheint Sarah, deren Aufenthaltsort zu diesem Zeitpunkt keiner kennt, nicht zu einer Verhandlung vor dem Landgericht. Die Polizei greift sie daraufhin auf, und sie bleibt sechs Wochen in Haft. Mehrere Optionen stehen nun im Raum, weiß Mutter Birgit Feldmann von Sarahs Strafverteidiger David Volke. Und sie beginnt, sich Hoffnungen zu machen. Denn eine Möglichkeit, neben einer mehrjährigen Haftstrafe, wäre der Maßregelvollzug nach Paragraf 64 des Strafgesetzbuches. In diesem Fall würde Sarah als suchtkranke Täterin für mindestens zwei Jahre geschlossen in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Genau das will Birgit Feldmann seit Jahren erreichen. Am letzten Verhandlungstag kommt es dann zu einer Entscheidung, die niemand erwartet hat und die für Sarah wohl die schlechteste ist: ein Freispruch. Bis zuletzt hat die 17-Jährige die Tat bestritten, der Hauptzeuge verwickelt sich in Widersprüche. Sarah kann direkt vom Gericht mit ihrer Mutter nach Hause gehen. Sie ist erleichtert und euphorisch. Birgit Feldmann ist am Boden zerstört. &bdquo;Ich kann es einfach nicht fassen ... nicht fassen“, sagt sie leise und langsam am Telefon. Für sie ist das Urteil der Auftakt zu einer neuen Runde Teufelskreis. Strafverteidiger: Therapie für Sarah ist dringend nötig Strafverteidiger David Volke kann die Reaktion nachvollziehen – und hält das Urteil dennoch für richtig. &bdquo;Bei einem Strafverfahren geht es nicht um das große Ganze. Hier kann nicht Sarahs Geschichte berücksichtigt und dann ein Urteil zu ihrem Besten gefällt werden. Es geht nur darum, ob sie schuldig ist oder nicht.“ Dennoch ist auch der erfahrene Anwalt überzeugt: &bdquo;Sarah braucht eine Therapie. Und das ganz dringend. Sonst ist es bald zu spät.“ Vor einer Woche, am Donnerstag, fiel das Urteil. Bereits am Samstag haute Sarah wieder von zu Hause ab. Vier Tage später, am Mittwoch, wird Sarah nach Hause gebracht. Zugedröhnt, apathisch, kaum ansprechbar, vollkommen verdreckt. Mutter soll sich innerlich von Tochter verabschieden Birgit Feldmann tut, was sie immer tut. Sie zieht ihrer Tochter die stinkenden, schmutzigen Kleider aus, legt die 17-Jährige in ihr Bett und wartet. Darauf, dass Sarah aufwacht. Dass sie duschen geht. Etwas isst. Sich erholt. Und die wiedergewonnene Kraft dann dafür nutzt, wieder abzuhauen, sobald der Suchtdruck zu groß wird. &bdquo;Und irgendwann wird sie zum letzten Mal abhauen. Dann kommt sie nicht zurück, nie wieder. Weil sie nicht mehr lebt.“ Einige Akteure, die Sarah begleitet haben, gehen bereits fest von diesem Szenario aus. Sie haben Birgit Feldmann geraten, schon mal damit zu beginnen, sich innerlich von ihrer Tochter zu verabschieden. Und sich dafür therapeutische Hilfe zu suchen. Ihnen allen gibt Feldmann, die zusehends verbittert, eine Teilschuld an dem, was mit ihrer Tochter geschieht. &bdquo;Was hier passiert, ist unterlassene Hilfeleistung. Bei all den Maßnahmen, die Sarah durchlaufen hat, war nur genau das nicht dabei, was sie dringend braucht. Wenn sie stirbt, haben alle Menschen, die in diesem kranken System arbeiten, meine Tochter auf dem Gewissen.“

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