EU-Abgeordnete Mertens: „Müssen gegen Organisierte Kriminalität aufrüsten“

Frau Mertens, im Oktober haben Sie mit dieser Zeitung auf Ihre ersten 100 Tage im EU-Parlament zurückgeschaut. Damals sagten Sie, dass Sie sich an Ihrem neuen Arbeitsplatz zu Beginn mehrfach verlaufen hätten. Finden Sie sich mittlerweile besser zurecht? Verena Mertens: Inzwischen sind die EU-Gebäude für mich eine gewohnte Umgebung geworden. Ich schaffe es sogar, die Räume selbstständig zu finden, was hier nicht selbstverständlich ist [lacht]. Im Juni 2024 sind Sie als neue Repräsentantin der Region Ostwestfalen-Lippe ins EU-Parlament gewählt worden. Welche Bedeutung hat die EU für Sie? Die EU ist zunächst das größte Friedensprojekt seit Jahrhunderten. Ich selbst war schon mit 11 Jahren das erste Mal alleine zum Sprachurlaub in England. Das war in der fünften Klasse in den Osterferien. Da hatte ich gerade ein halbes Jahr Englisch. Mir fielen Kleinigkeiten im Alltag auf, die dort anders waren. Zum Beispiel, dass man dort Einkaufstüten aus Plastik gleich als Mülltüten weiterverwendet – während man in Deutschland extra Mülltüten kauft. Ich fand es faszinierend, dass die Menschen in anderen Ländern die Dinge anders regeln als wir und es eben auch gut funktioniert. So etwas hat meinen Blick offen gemacht für Internationales und für Europa. Welchen Stellenwert hat die Region OWL bei der EU? Ostwestfalen-Lippe ist natürlich eine sehr wirtschaftsstarke Region. Wir haben globale Champions und viele Hidden Champions, deren Produkte weniger bekannt sind, weil es sich nicht um Konsumgüter handelt, die in ihrem Bereich aber dennoch führend sind. Und wir haben natürlich viele kleine und mittelständische Unternehmen, die unheimlich wirtschaftsstark sind. Das ist bei uns sehr bekannt. Bis nach Brüssel reicht dieser Ruf allerdings noch nicht. Ich verstehe es aber als meine Aufgabe, für Ostwestfalen-Lippe Botschafterin zu sein und OWL nach Brüssel zu holen und Brüssel nach OWL. Welche Mittel und Wege sehen Sie da? Dasein und Zuhören, wenn ich in OWL bin. Ich gehe in die Unternehmen und auf Veranstaltungen, um dort mitzubekommen, was die Leute bewegt. Und das versuche ich dann auf EU-Ebene mit den Kollegen in den Ausschüssen an Hand von konkreten Beispielen zu besprechen. Warum lohnt es sich für ein Unternehmen zum Beispiel nicht, seine Medizinprodukte aufwendig nachzertifizieren zu lassen? Und was sind in der Praxis die Probleme mit der Europäischen Entwaldungsverordnung? Wie hat Ihre Aufgabe als Mandatsträgerin Ihren Blick auf die Region verändert? Ich glaube, ich habe früher nicht so weit geschaut und mich mehr mit meinen Themen beschäftigt. Das ist ja vor allem Polizei und innere Sicherheit. Wie stark der Wirtschaftsstandort Ostwestfalen-Lippe ist, war mir früher nicht so klar, weil ich mich damit nicht so intensiv beschäftigt habe. Ihr Vorgänger Elmar Brok saß fast 40 Jahre im Europäischen Parlament. Er gilt als Urgestein und Gesicht Europas in der Region und darüber hinaus. Wie schwierig ist es, seine Nachfolge anzutreten? Seine Fußstapfen sind natürlich riesig. An allen maßgeblichen Entscheidungen und Weichenstellungen der Europäischen Union in den vergangenen Jahren war er mindestens beteiligt. Von daher bin ich da sehr ehrfürchtig. Wir stehen regelmäßig im Austausch, telefonieren und sehen uns auf Veranstaltungen. Ich bin froh über jeden Ratschlag, den er mir gibt. Sie sind 1999 der Jungen Union beigetreten, später dann der CDU. Ansonsten haben Sie wenig politische Vorerfahrungen. Welches sind die zentralen Lehren aus Ihrer bisherigen Zeit als Mandatsträgerin? [Überlegt] Viele Menschen haben ja ein kritisches Bild von Politikern, weil man nicht weiß, was sie den ganzen Tag lang tun. Ich habe festgestellt, dass es hier sehr engagierte Kollegen gibt, die wirklich für die Sache brennen - bis hin zur Selbstaufopferung. Und die wirklich Kompetenz haben. Manchmal denkt man ja: Was hat Europa jetzt schon wieder geregelt? Dabei sind das hier keine Dummies, die keine Ahnung haben von den Themen. Ich glaube, die komischen Regelungen kommen oft durch die Kompromisse zustande, die Politik eben einfach immer erfordert. Denn andere Fraktionen sehen die Dinge völlig anders als wir in der CDU/CSU und der Europäischen Volkspartei EVP. Zudem habe ich gelernt, dass es eine große Herausforderung ist, Europa in die Heimat, nach Ostwestfalen-Lippe zu bringen. Als Abgeordnete müssen wir ja ständig hier vor Ort in Brüssel oder Straßburg sein. Wir haben 38 Sitzungswochen im Jahr. Zum Vergleich: Der Bundestag hatte 2024 nur 21 Sitzungswochen. Die Sitzungswoche geht dann immer von Montag bis Donnerstag. Trotzdem in der großen Region OWL ständig präsent zu sein, ist schon schwierig, vor allem, wenn man Familie hat. Da würde ich mir wünschen, mehr online arbeiten zu können. Welchen Rhythmus haben Sie mit Ihrer Familie gefunden? Die Hauptverantwortung hat mein Mann. Er hat seine Stelle auf 75 Prozent reduziert und fängt vieles ab. Meine Mutter unterstützt auch ganz viel. Wenn in Brüssel kein zwingender Termin ist, versuche ich nach Hause zu fahren und vom Homeoffice aus zu arbeiten. Klar ist aber auch, dass meine Tochter, je älter sie wird, weniger Rundumbetreuung braucht. Zuvor haben Sie als leitende Kriminalbeamtin in Paderborn gearbeitet, konnten dort Vieles selbst in die Hand nehmen. Nun sind Sie Mandatsträgerin in der als Bürokratiemonster kritisierten EU. Wie haben Sie den Wechsel wahrgenommen? Ich wusste natürlich schon vorher, dass die Entscheidungswege viel länger sind. Aber dennoch ist es frustrierend, dass man die Dinge nicht schnell umsetzen kann. Ich bin sehr lösungsorientiert und diskutiere ungern lange über Probleme. Deswegen habe ich mich auch bei der Polizei so wohl gefühlt. Dort tickt man nämlich insgesamt so. In der EU ist alles viel schwieriger. Das ist immer noch eine große Herausforderung für mich. Wegen Ihres beruflichen Hintergrundes hatten Sie angekündigt, innere Sicherheit zu einem Ihrer Hauptthemen zu machen. Was sehen Sie in dem Bereich als größte Gefahr? Für die innere Sicherheit ist es die Organisierte Kriminalität. Dabei geht es zum großen Teil um Drogen. Damit gehen oft Prostitution und Menschenhandel einher. Aber auch die Netzwerke hinter Betrugsmaschen wie dem Enkeltrick oder dem falschen Polizeibeamten sind organisiert. Ebenso Cyberkriminelle, die zum Beispiel Rechnungen verändern, sodass zum Beispiel ein Unternehmen die zwei Millionen Euro für den Zulieferer mal eben auf das falsche Konto überweist. Bei alldem geht es um Netzwerke, die im Untergrund agieren. Aber sie sind da, sie sind aktiv und sie sind europäisch vernetzt. Sie stören sich nicht an Grenzen. Unsere Polizeien in Europa sind hingegen traditionell nationalstaatlich organisiert, in Deutschland sogar nach Bundesländern und an diese Grenzen zunächst gebunden. Was muss sich ändern? Die Zusammenarbeit der Polizei innerhalb von Deutschland klappt schon sehr gut, innerhalb von Europa müssen wir das noch verbessern. Es gibt tolle von Europol [Polizeibehörde der EU, Anm. der Red.] organisierte europäische Projekte, in denen Zusammenarbeit stattfindet. Aber das sind eher Leuchtturmprojekte, die kommen nicht in der Fläche an. Die Vernetzung muss herunter reichen bis in die Kreispolizeibehörden. Dort fällt der Drogendealer auf. Dort wird das Verfahren eingeleitet. Und dort muss auch der Kontakt zu Europol bekannt sein. Die Wege dürfen nicht umständlich über das Landeskriminalamt und das Bundeskriminalamt zu Europol führen. Und es braucht mehr Ressourcen. Die Polizei in Europa hat teilweise gar nicht die Kapazitäten und rechtlichen Befugnisse, dagegen anzukommen. Ein Schlüssel ist ja zum Beispiel der Zugriff auf digitale Daten als Beweismittel. Ich weiß dann zum Beispiel, dass jemand mit Drogen dealt, aber ich kann es ihm nicht nachweisen, weil ich den Zugriff auf die digitalen Daten nicht habe. Wir müssen da mehr aufrüsten und das Thema muss ein größerer Schwerpunkt werden. Denn es gibt zwar viele sehr wichtige politische Themen, aber ohne Sicherheit ist alles nichts. Bundeskanzler Olaf Scholz hat diesen Satz mit Blick auf die Bedrohung durch Russland gesagt. Wie schätzen Sie die Gefahr, die vom Kreml ausgeht, ein? Geht es um die äußere Sicherheit, ist Russland für mich absolut die größte Bedrohung für ein freies und sicheres Europa. Wenn wir Putin nichts Vernünftiges entgegensetzen, macht er mit uns, was er will. Wenn wir die Rückendeckung der USA nicht mehr haben, müssen wir uns selbst verteidigen können, sonst marschiert Putin durch. Ein anderes Megathema unserer Zeit ist der Umgang mit Migration. Die EU-Staaten haben sich auf ein Reformpaket des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt, das bis Juni 2026 in nationales Recht überführt sein muss. Die Organisation &bdquo;Pro Asyl“ zum Beispiel spricht von einem historischen Tiefpunkt für den Flüchtlingsschutz in Europa. Kritisiert werden unter anderem haftähnliche Bedingungen in Lagern an den EU-Außengrenzen. Was erwidern Sie? Ich finde hier eine präzise Formulierung wichtig. Der Begriff &bdquo;Lager“ ist in der deutschen Sprache sehr belastet und verfälscht das Bild. Die Asylzentren an den Außengrenzen müssen selbstverständlich alle Standards zur Gewährleistung der Menschenrechte erfüllen. Das ist absolute Voraussetzung. Da darf es keine Abstriche geben. Das Recht auf Asyl ist ein ganz wichtiges Recht, das natürlich hochgehalten werden muss. Und gerade, um das zu gewährleisten, müssen wir die Migration steuern. Wir müssen selbst wieder eine Handhabe kriegen, eine Entscheidungsmöglichkeit darüber, wen wir reinlassen und wen nicht. Ich verstehe ja, wenn Menschen kommen, denen es in ihrer Heimat wirtschaftlich schlecht geht. Aber das ist kein Asylgrund. Um den Menschen helfen zu können, die einen wirklichen Asylgrund haben, müssen wir auch diejenigen ablehnen dürfen, die kein entsprechendes Recht haben. Wenn die Menschen das wissen, machen sie sich auch erst gar nicht auf den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer oder entlang anderer Fluchtrouten. Es muss gewährleistet sein, dass wir die Leute, die wir aufnehmen, auch vernünftig integrieren können. Denn man weiß zum Beispiel, dass sich Menschen, die nicht gut integriert sind, leichter von Organisierter Kriminalität rekrutieren lassen. Wie Alt-Bundespräsident Joachim Gauck gesagt hat: Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich. CDU-Chef Friedrich Merz hat jüngst Aufsehen erregt, weil er bei Bundestagsabstimmungen zum Thema Migration auch Stimmen der AfD in Kauf nahm. Wie bewerten Sie das? Andere Parteien nehmen die ganze Zeit Stimmen der AfD in Kauf. Im EU-Parlament passiert das andauernd, weil man vorher auch gar nicht weiß, wie die AfD stimmen wird. Insofern ist die Kritik auch Heuchelei. Und nur weil einer, den ich nicht mag, ein Schnitzel isst, darf ich dann deswegen kein Schnitzel mehr essen? Die Inkaufnahme von AfD-Stimmen ist insgesamt aber was anderes als sich mit AfD-Mitgliedern abzusprechen und gemeinsam politische Pläne zu machen. Merz hatte angekündigt, Schutzsuchende an den deutschen Grenzen zurückzuweisen. Wie stehen Sie dazu? Das Grundgesetz regelt in Artikel 16a, Absatz 2, dass Menschen, die aus einem Mitgliedsstaat der EU einreisen, kein Recht auf Asyl haben. Wer zum Beispiel aus Polen einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl in Deutschland, weil er in Polen sicher leben kann. Doch nach Ansicht vieler Experten ist das deutsche Recht hier gar nicht maßgeblich. EU-Recht hat Vorrang. Und laut der Dublin-III-Verordnung muss Deutschland prüfen, welcher EU-Staat für das Asylverfahren eines Flüchtlings zuständig ist – und muss ihn dafür zunächst einreisen lassen. Er kann also nicht einfach zurückgewiesen werden. Und ebenso gibt es Rechtsexperten, die das genau anders sehen, weil das Dublinverfahren ja aktuell gerade absolut nicht funktioniert. Aufgrund dieser Dysfunktionalität von &bdquo;Dublin“ gibt es auch nach bestehendem Europäischen Recht eben doch die Möglichkeit einer Zurückweisung an der Grenze. Erst vor wenigen Tagen haben wir uns als EVP-Fraktion auch für eine neue Rückführungsverordnung der EU eingesetzt, die insbesondere der Debatte in Deutschland passgenau entgegenkommt. Der für ganz Europa wesentliche &bdquo;Ball“ liegt jetzt gerade bei Friedrich Merz in den Verhandlungen mit der SPD in Berlin. Die Zurückweisungen stehen bereits im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD. Die Frage, was genau die &bdquo;Abstimmung“ mit unseren Nachbarländern bedeutet, ist noch strittig. Ich plädiere hier, politisch wie juristisch, klar für die Definition als &bdquo;Benehmen“, nicht als &bdquo;Einvernehmen“. Der politische Wille, mit sehr hoher Unterstützung unserer Bürgerinnen und Bürgern, ist hier völlig klar. Und Europa wird sogar profitieren, wenn die Migrationswende endlich kommt. Zudem ist gut, dass die potentiellen Koalitionäre in Berlin die Umsetzung des Europäischen Asylpaktes in deutsches Recht schon auf 2025 beschlossen haben. Sie sind stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter. Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf? Ich glaube, dass wir mit der Gleichstellung der Frauen in Deutschland verglichen mit manch anderen Mitgliedsstaaten der EU schon recht weit sind. Das wird mir klar, wenn ich Berichte von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Mitgliedstaaten höre. Wenn wir aber wollen, dass mehr Frauen in den Arbeitsmarkt kommen und mehr Frauen Führungsverantwortung übernehmen, dann geht das nur, wenn sich Frauen und Männer Kinderbetreuung, Pflege und Haushalt teilen. Dafür brauchen wir aber aufseiten der Arbeitgeber und in der ganzen Gesellschaft mehr Akzeptanz dafür, dass Männer Arbeitszeit reduzieren. Das fehlt mir an vielen Stellen. &bdquo;Geboren, verheiratet, Europäisches Parlament“ – so soll Helmut Kohl einmal den Lebenslauf von Elmar Brok zusammengefasst haben. Wird man das über Verena Mertens auch irgendwann sagen? Nein, denn dafür habe ich ja vorher schon zu viele andere Sachen gemacht, mit denen ich mich ganz tief identifiziere. Die Polizei ist wirklich ein ganz großer Teil von mir und auch der Grund, warum ich hier im EU-Parlament bin. Denn neben dem Einsatz für die Unternehmen in unserer Region ist es meine große Motivation, Europa sicherer zu machen. Mein Herz ist immer noch bei der Polizei und wird auch immer dort sein.

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