„Pure Geldmacherei“: Geschäft mit der Kieferorthopädie bei Kindern boomt

Herford/Greifswald. Wer auf andere Länder schaut, erhält den Eindruck, dass es um die Zähne der deutschen Kinder am schlechtesten bestellt ist. Zwei von drei jungen Patienten erhalten hier eine Zahnspange; bundesweit sind es 66 Prozent. Zum Vergleich: In Dänemark sind es nur 29 Prozent. Dass längst nicht alle Behandlungen und auch ihre lange Dauer nötig sind, zeigen aktuelle Zahlen – auch für OWL. Ein Kieferorthopäde redet Klartext. Gemeinsam mit der Handelskrankenkasse (hkk) hat der Kieferorthopäde Alexander Spassov den Behandlungsplan und die Abrechnungsdaten von 2.624 bei der hkk versicherten Kindern und Jugendlichen ausgewertet. Sie alle erhielten zwischen dem 1. Januar 2018 und dem 30. Juni 2023 eine kieferorthopädische Behandlung. Die Ergebnisse zeigen: In vielen Fällen wird deutlich länger behandelt als nötig, es werden Leistungen abgerechnet, die nicht erforderlich sind, und es werden in vielen Fällen Kinder behandelt, bei denen es gar nicht geboten wäre. &bdquo;Zu den häufigsten Diagnosen gehörten Überbisse, seitliche Kreuzbisse und Kreuzbisse im Frontzahnbereich“, erklärt Spassov, der auch schon in einer Herforder Praxis arbeitete. &bdquo;Wir wissen aber aus Studien, dass die Häufigkeit dieser Fehlstellungen abnimmt, wenn Kinder älter werden – auch ohne Behandlung.“ Noch einfacher ausgedrückt: Es werden also bei Kindern am häufigsten genau jene Fehlstellungen korrigiert, die sich vielleicht ohnehin verwachsen hätten. .responsive23-8AYs2oMXMjjGocLV-atlas-slider-zahnreport-2024-kinder { width: 100%; padding-top: 100%; } @media (max-width: 600px) { .responsive23-8AYs2oMXMjjGocLV-atlas-slider-zahnreport-2024-kinder { padding-top: 100%; } } @media (max-width: 360px) { .responsive23-8AYs2oMXMjjGocLV-atlas-slider-zahnreport-2024-kinder { padding-top: 142.86%; } } Auch viele Praxen in OWL behandeln zu viel In den Augen von Kieferorthopäde Spassov, der mittlerweile zwei Praxen in Greifswald und Wolgast betreibt, sind zudem die langen Behandlungszeiten, die aus der Studie hervorgehen, medizinisch nicht zu erklären. &bdquo;Wir haben es hier mit Fehlstellungen zu tun, die in acht bis zwölf Wochen korrigierbar sind. Die Studie zeigt aber, dass fast 40 Prozent der Patienten fast 4,5 Jahre behandelt wurden.“ Lediglich 60,8 Prozent der Patienten schloss die Behandlung innerhalb des vorher vom zuständigen Kieferorthopäden festgelegten Zeitraums ab. &bdquo;Das ist pure Geldmacherei. Ein Selbstbedienungsladen für viele Kollegen, der auf Kosten der Solidargemeinschaft geht.“ Das hängt auch mit der Leistungsabrechnung zusammen. Denn die Studie zeigt: Bei Patienten, die nacheinander erst eine lose Spange und anschließend feste Brackets erhielten, betrug die durchschnittliche Behandlungszeit 2,6 Jahre. Bei Patienten, die nur Brackets bekamen, waren es lediglich 1,8 Jahre. &bdquo;Dennoch war bei 1.595 Patienten der Studie, deren Behandlung bereits abgeschlossen war, in 91 Prozent der Fälle auch eine herausnehmbare Apparatur abgerechnet worden“, erklärt Spassov. Eine andere Leistung, von der anscheinend ähnlich inflationär Gebrauch gemacht wird, ist das Röntgen. Eine in Spassovs Augen in nur wenigen Fällen nötige Maßnahme bei kieferorthopädischer Behandlung, für die es laut Richtlinien eine klare Indikation geben muss. &bdquo;Wir sehen aber an den Zahlen, dass Röntgen in den Praxen routinemäßig bei der Mehrzahl der Patienten, unabhängig von der Notwendigkeit und oft sogar mehrfach, durchgeführt wird.“ Es ist nicht die einzige Erhebung in Deutschland, die belegt, dass Kieferorthopäden ihren Patienten zu viel Behandlung angedeihen lassen. Auch die Krankenkasse Barmer kommt nach Auswertung des Zahn-Reports zu dem Schluss, dass in vielen Fällen eine Überversorgung vorliegt. Die meisten Zahnspangen gibt es in Paderborn Allein in NRW wird mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen kieferorthopädisch behandelt, zeigt der Report, für den Daten von bundesweit mehr als 50.000 Achtjährigen über einen Zeitraum von zehn Jahren, also bis zum 17. Lebensjahr, ausgewertet wurden. Damit liegt das Bundesland über dem bundesweiten Durchschnitt von 54,7 Prozent. Dieser Trend setzt sich auch in der Region Westfalen-Lippe fort. Spitzenreiter sind Münster mit 63,1 Prozent und Paderborn mit 57,2 Prozent, gefolgt von Gütersloh mit 56,5 Prozent. Es folgen Herford mit 54,4 Prozent und Höxter mit 54 Prozent. Schlusslichter sind Bielefeld (53,1 Prozent) und Minden (52,9 Prozent), die unter dem Bundesdurchschnitt liegen. Doch nicht nur zwischen Städten, auch zwischen Bundesländern variieren die Zahlen stark. Spitzenreiter ist Bayern mit fast 60 Prozent, Schlusslicht Niedersachsen mit 47,5 und Bremen mit 45,9 Prozent. In den Augen von Barmer-Landesgeschäftsführer João Rodrigues lassen diese Abweichungen den Rückschluss zu, dass Kinder zu häufig kieferorthopädisch behandelt werden. &bdquo;Mit Kieferanomalien und Zahnfehlstellungen allein sind diese Unterschiede nicht erklärbar.“ Mädchen auch in OWL häufiger beim Kieferorthopäden Und noch einen gravierenden Unterschied gibt es: In allen Bundesländern fällt die Inanspruchnahme von Kieferorthopädie bei Mädchen zehn Prozent höher aus als bei Jungen. So erhalten in NRW 50,2 Prozent der Jungen und 61 Prozent der Mädchen eine Behandlung. Mögliche Gründe laut Barmer-Geschäftsführer Rodrigues: Schönheitsideale, Gruppendruck und eine eventuell übertriebene elterliche Fürsorge. Doch noch ein anderer Grund dürfte eine maßgebliche Rolle spielen: &bdquo;Kieferorthopädie ist ein Markt“, sagt Gesa Schölgens von der Verbraucherzentrale NRW. Nicht umsonst gibt es hier aufgrund der Verbrauchererfahrungen in der Servicesparte &bdquo;Kostenfalle Zahn“ mittlerweile einen eigenen Bereich für Kieferorthopädie. 80 Prozent der Eltern zahlen erheblich privat dazu Denn obwohl die Behandlung bei bestimmter Indikation eine Kassenleistung ist, zahlen laut einem Gutachten des Bundesgesundheitsministeriums 80 Prozent aller Eltern privat dazu – im bis zu vierstelligen Bereich. &bdquo;Uns liegen Berichte von Eltern vor, wie Kassenleistungen drastisch abgewertet und Nicht-Kassenleistungen beworben werden“, sagt Schölgens. &bdquo;Alles im Namen der Sicherheit – oder der Ästhetik.“ So werden zum Beispiel häufig Brackets angeboten, die kleiner oder leichter zu reinigen seien. Ein Vater liefert gar ein Beispiel, wie Fotos von Zahnspangenmodellen, die die Kasse übernimmt, bei der Beratung in einer Praxis anhand von Bildern visuell verunstaltet waren und das eigene Modell der Praxis im besten Licht präsentiert wurde. &bdquo;Solche Vorgehensweisen sehen wir natürlich sehr kritisch“, erklärt Schölgens. Insgesamt fühlten sich Verbraucher im Bereich Kieferorthopädie oftmals nicht hinreichend und nicht transparent aufgeklärt. Berufsverband der Kieferorthopäden reagiert nicht auf Anfrage Doch was sagen jene, die diese Aussagen betreffen, zu den Vorwürfen? Der Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden zog eine Stellungnahme zurück. Die Bundeszahnärztekammer beantwortete die gestellten Fragen nicht, sondern verwies auf eine eigene Studie zur Sinnhaftigkeit von Kieferorthopädie. Und was ist nun die Lösung? Experte Spassov und sein Co-Autor Bernhard Braun von der Universität Bremen haben an der Stelle klare Forderungen – und Ratschläge für Eltern. &bdquo;Eltern sollten versuchen, Ruhe zu bewahren, sich nicht so leicht verunsichern zu lassen und vor allem nicht gleich privat zuzahlen“, sagt Spassov. Außerdem fordert er eine Pauschalvergütung für kieferorthopädische Leistungen. &bdquo;Sie dürfen nicht mehr so leicht einzeln abrechenbar sein, sondern müssen nach Indikation erfolgen.“ Zudem sei es dringend nötig, diagnostische und therapeutische Standards zu entwickeln, nach denen die Mediziner behandeln müssten. &bdquo;Wir brauchen zum Beispiel dringend Kriterien für die Abfolge und Zulässigkeit von herausnehmbaren Apparaten und Brackets. Derzeit kann jeder Kollege nach Gutdünken behandeln und sich so bereichern.“ Weitere Informationen hhk-Gesundheitsreport 2024: Kieferorthopädische Behandlung von Kindern und Jugendlichen

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