Versmold. Im Februar 2023 bricht die Welt über Annette Grimm zusammen. Ihr Mann bekommt die niederschmetternde Diagnose: Lungenkrebs im Endstadium. Für die Reise-Expertin beim Versmolder Unternehmen ist klar, dass sie sich um ihren Mann kümmern und ihn zu Hause pflegen wird. Zu den Sorgen und zu der Trauer kommt die Frage, wie sie all das beruflich stemmen soll. „Irgendwann kommt man an den Punkt, an dem alle Urlaubstage und Überstunden aufgebraucht sind“, schildert Annette Grimm. Zusammen mit ihrem Arbeitgeber, der Versmolder Fritz Sieckendiek GmbH & Co. KG, findet sie eine Lösung – und mehr noch. Heute hilft sie als Pflege-Lotsin anderen Betroffenen.
Annette Grimm lässt sich damals freistellen. Die Kollegen und ihre Chefin halten ihr den Rücken in der schweren Situation frei. „Es ist geballt so viel, was auf einen zukommt. Da ist man dankbar, eine helfende Hand zu haben“, schildert Annette Grimm. Heute, mit etwas Abstand, kann sie gut über die Zeit sprechen. Bei einer Veranstaltung der Wirtschaftsförderungsgesellschaft im Kreis Gütersloh nimmt sie allen Mut zusammen, um vor Publikum ihre Erfahrungen zu schildern. „Wenn es anderen hilft, hat es vielleicht einen Sinn gehabt“, sagt Annette Grimm.
An ihrer Seite steht an diesem Vormittag Gesellschafterin Birgit Sieckendiek-Rinker, die betont: „Wir möchten das Thema weiter in die Mitte tragen.“ Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege sei ihr als Unternehmerin eine Herzensangelegenheit. Ihre Botschaft: „Es gibt für alles eine Lösung.“ Wie diese aussehen kann, ist von der individuellen häuslichen und familiären Situation abhängig. „Es ist wichtig, sich damit im Vorfeld auseinanderzusetzen. Wenn eine Pflegesituation eintritt, hat man viele andere Gedanken.“
Versmolder Unternehmerin ist Pflege-Lotsin
Birgit Sieckendiek-Rinker absolvierte vor einigen Jahren einen Hospizhelferkurs. „Das hat mir viel Spaß gemacht“, sagt die Peckeloherin. Als die Einladung der proWirtschaft GT zum jährlichen Lehrgang „Betriebliche Pflege-Lotsen“ kommt, habe sie gedacht: „Das müssen wir anpacken. Das Thema gewinnt immer mehr an Bedeutung.“ Das Bus- und Reiseunternehmen nimmt seit 2023 am Landesprogramm für Beruf & Pflege teil. 466 Unternehmen aus NRW haben darüber inzwischen knapp 900 Pflege-Guides qualifizieren lassen – das sind geschulte Vertrauenspersonen im Betrieb, an die sich Betroffene wenden können. Bisher haben sich erst sechs Unternehmen kreisweit diesem Programm angeschlossen – weitere sollen motiviert werden.
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Einmal im Jahr bietet die Wirtschaftsförderungsgesellschaft im Kreis Gütersloh einen Qualifizierungslehrgang für „Betriebliche Pflege-Lotsen“ an. „Sie erleichtern den Erstzugang zu lokalen Dienstleistungsstrukturen und sie unterstützen darin, notwendige individuelle Fahrpläne für die Arbeitsorganisation mit den Entscheidungsebenen zu besprechen und umzusetzen.“ Beim Peckeloher Familienunternehmen stehen in Birgit Sieckendiek-Rinker und Annette Grimm zwei Lotsinnen zur Verfügung. Damit geht der Betrieb von der Bismarckstraße mit gutem Beispiel im Kreis Gütersloh voran.
Um auf die Möglichkeiten aufmerksam zu machen, gab es jetzt die Veranstaltung für Personalverantwortliche. Die Kernfrage: Was können Arbeitgeber tun, um betroffene Beschäftigte zu unterstützen und nachhaltige Lösungen zu finden? Die proWirtschaft GT sieht eine „pflegesensible Unternehmenskultur“ als Erfolgsfaktor für Mitarbeitende und Arbeitgeber – gerade angesichts des demografischen Wandels und des branchenübergreifenden Fachkräftemangels.
Doppelbelastung zwischen Pflege und Beruf
Wie wichtig das Thema ist, verdeutlicht Corinna Schwedthelm, Projektreferentin vom Netzwerkbüro „Erfolgsfaktor Familie“ in Berlin, in ihrem Impulsvortrag. Von den knapp 5,7 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland (Stand Ende 2023) wird der überwiegende Teil zu Hause versorgt, viele allein von den Angehörigen. Dieser Anteil wird künftig voraussichtlich zunehmen. Während die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2055 laut Statistik auf 6,8 Millionen Menschen steigen wird, nehmen die Heimplätze in diesem Zeitraum „nicht signifikant zu“, so Schwedthelm.
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Fast die Hälfte der Pflegenden ist zwischen 50 und 65 Jahre alt, steht also im Erwerbsleben. Der Anteil der Frauen überwiegt. „Oft sind diese in der Sandwich-Position zwischen Kindererziehung und Pflege von Angehörigen“, nennt die Expertin eine zusätzliche Belastung.
Zum Beruf – ob nun Vollzeit oder Teilzeit – kommt obendrauf die Fürsorge. Die Pflege eines Angehörigen kann mitunter (je nach Pflegegrad) bis sechs Stunden pro Tag beanspruchen, oft über mehrere Jahre. Körperlich wie psychisch sei das eine Herausforderung, über die oft nicht gesprochen werde. Corinna Schwedthelm nannte schlechtes Gewissen, Angst vor Arbeitsplatzverlust oder Sorge vor beruflichen Nachteilen als Gründe dafür. „Oft lassen sich Betroffene krankschreiben, weil sie nicht wissen, wie sie es anders regeln sollen“, schildert Corinna Schwedthelm aus der Praxis.
Netzwerk für Betriebe im Kreis Gütersloh
Das Netzwerk „Betriebliche Pflege-Lotsen“ im Kreis Gütersloh möchte das Thema enttabuisieren, mehr Anerkennung für die Pflege schaffen und Arbeitgebern Wege aufzeigen. Über Kindererziehung und -betreuung zu sprechen, sei leicht und alltäglich, weiß Dr. Marita Reinkemeier von der proWirtschaft GT. Bei Pflegesituationen sei das anders. Sie unterstreicht: „Eine familienfreundliche Unternehmenskultur sollte auch die Bedürfnisse von Menschen in einer Pflegesituation berücksichtigen und passende Angebote machen, damit sie weiterhin ihrem Beruf nachgehen können.“
Gelingen soll das durch die Schulung von Mitarbeitenden, betriebliche Workshops, Informationsveranstaltungen, Beratungsangebote und ein gutes Vertretungsmanagement. Betroffene benötigen Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung, kurzfristige Freistellungen und Rücksichtnahme auf spontane Betreuungsbedarfe. „Das ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung“, betont Reinkemeier.
Informationen für Arbeitgeber zum Landesprogramm „Pflege & Beruf“ finden sich hier.